Das Wörterbuch des Viktor Vau
eine von zahlreichen oppositionellen Organisationen war, die es gab. Angeblich sollte es weitere Gruppen unter der Arbeiterschaft geben, an anderen Hochschulen und sogar innerhalb der Verwaltung selbst. Wenn das stimmte, dann war der Widerstand breiter, als wir gedacht hatten.
Danach kam Abraham auf die Funktion der Sprache für die Gesellschaft zu sprechen. Die vollständig durchrationalisierte Einheitssprache bildete die Ursache allen Ãbels, so lautete die Theorie der Brunnensucher , wie sie sich selbst nannten.
»Dadurch, dass die Sprache jedes Detail der Wirklichkeit exakt abbildet, lässt sie keinen Raum mehr für Unklarheiten«, dozierte Abraham. »Unklarheiten sind aber eine wesentliche Voraussetzung für ein wirklich menschliches Leben. Nur durch Unklarheiten und Doppeldeutigkeiten ist Kreativität möglich, kann es Humor und Kunst geben.«
Ich hätte ihm gern widersprochen, hielt mich aber zurück. Dafür meldete sich ein anderer Neuzugang, dessen Gesicht ich aus einem der Seminare kannte.
»Aber wir haben doch eine Vielfalt an Malern, Komponisten und Dichtern«, warf er ein.
Abraham blickte den Fragesteller mitleidig an.
»Was ist das für eine Kunst? Sie besteht ausschlieÃlich aus der naturgetreuen Abbildung der Realität oder aus Farbmustern, die sich nach den Gesetzen der Farbskala zusammensetzen. Und was ist das für eine Musik? Sie kennt nur einen Rhythmus, der lediglich im Tempo variiert wird und eher an den Takt von Maschinen angelehnt ist als an etwas anderes. Und die Dichtung? Sie ist genauso armselig mit ihren simplen Reimen und immer gleichen Geschichten, die alle auf demselben Rezept basieren, nämlich die Realität einfach nur abzubilden.
Die Aufgabe der Kunst ist aber, die bestehenden Verhältnisse zu hinterfragen, den Leser, Hörer oder Betrachter zum Nachdenken anzuregen und durch Doppeldeutigkeiten, Drehungen und Spiegelungen die Realität immer wieder einer Prüfung zu unterziehen. Kunst ist dazu da, das Mögliche zu zeigen, nicht das Faktische.«
Der Fragesteller war mit der Antwort noch nicht zufrieden. »Und woher willst du wissen, dass das so ist? Du kennst doch keine andere Kunst als die bei uns existierende.«
Abraham lächelte groÃmütig. »Weil wir einige Bücher aus der Zeit vor der Destruktion gefunden haben, in denen beschrieben wird, dass es einmal so gewesen sein muss.«
Wir Neuen starrten ihn sprachlos an. Die ältesten Bücher, die laut offiziellen Angaben existierten, waren zweihundert Jahre alt. Alles, was es davor an schriftlichen Zeugnissen gab, war in der GroÃen Destruktion untergegangen. Das lernte jedes Kind in der Schule.
Die GroÃe Destruktion bestand aus zwei Ereignissen, die merkwürdigerweise nahezu gleichzeitig eingetreten waren. Das eine war ein Pilz, der jedes Papier unwiderruflich und rasend schnell zersetzte. Er war aus einem Forschungslabor entwichen und hatte alles, was jemals zu Papier gebracht worden war, innerhalb weniger Jahre vernichtet. Papyri, mittelalterliche Handschriften, die Bibliotheken, Zeitungen, Zeitschriften, Tagebücher, persönliche Briefe, alles war ihm zum Opfer gefallen.
Das andere Ereignis war ein Computervirus, der alle Rechner weltweit befallen und zielgerichtet jede Art von Text- oder Bilddatei unwiderruflich gelöscht hatte. Wie sich hinterher herausstellte, war er das Werk eines fünfzehnjährigen Schülers gewesen, der eigentlich nur die elektronischen Klassenarbeiten und Zeugnisse seiner Schule hatte ausradieren wollen. Doch er hatte die Aggressivität seiner Schöpfung weit unterschätzt. Im Nu hatte sich der Virus über sämtliche Computernetze ausgebreitet und fand selbst in die entlegensten Rechner Eingang. Bis ein entsprechendes Killerprogramm entwickelt worden war, hatte der Virus seine Arbeit bereits erfolgreich abgeschlossen und sich selbst vernichtet.
Innerhalb weniger Jahre war so der gesamte überlieferte Wissensbestand der Menschheit vernichtet worden. Doch Abraham zog auch diese Tatsache in Zweifel.
»Die GroÃe Destruktion ist eine gewaltige Propagandalüge der Herrschenden«, sagte er. »Oder glaubt einer von euch, ein Schuljunge könnte jeden Rechner auf der Welt erfolgreich angreifen? In Wirklichkeit haben die Herrschenden einfach alles vernichtet, was es an Zeugnissen aus der Zeit vor ihrer Machtergreifung gab.« Er senkte seine Stimme fast zu einem Flüstern ab.
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