Das Wörterbuch des Viktor Vau
zu gestalten. Es war ungewohnt, über moralische Entscheidungen nicht nur nachzudenken, sondern darüber zu reden und sie sogar infrage zu stellen.
Nachdem unsere Narben verheilt und wieder vollständig von Haaren verdeckt waren, begann unser Einsatz. Jeder von uns arbeitete allein. Wir wurden an verschiedene Universitäten geschickt, wo wir auf uns selbst gestellt waren. Auch die Kommunikation mit der Zentrale wurde aus Sicherheitsgründen auf ein Minimum reduziert. Wir schrieben unsere Erkenntnisse codiert nieder und hinterlegten die Aufzeichnungen an einer Reihe von zuvor festgelegten Orten, wo sie von anderen Agenten aufgelesen wurden. Ãbermittlungen per Mail waren ebenso ausgeschlossen wie ein Codieren der Texte am Rechner. Alles wurde ganz altmodisch per Hand und auf Papier gemacht.
Die ersten Wochen an der Hochschule verliefen ereignislos. Ich war nur einige Jahre weg gewesen, und sehr viel hatte sich nicht verändert. Wer sich verändert hatte, war ich. Ich tat jetzt das, was ich früher nie gemacht hätte: Ich besuchte Lokale, die ich vorher gemieden hatte, weil ihr Ruf fragwürdig war; ich ging zu Seminaren über obskure Themen, die von noch obskureren Leuten abgehalten wurden und zumeist in Privatwohnungen stattfanden, und ich lieÃ, wo immer ich mich auch aufhielt, Andeutungen fallen, dass ich mit dem bestehenden Gesellschaftssystem nicht glücklich war.
Irgendwann sprach mich eine meiner Mitstudentinnen an. Wir hatten uns in einer Kneipe kennengelernt, in der wir beide regelmäÃig verkehrten, und es hatte sich eine lose Freundschaft entwickelt.
»Was hast du heute Abend vor?«, fragte sie mich.
»Das Ãbliche«, erwiderte ich. »Nichts, was ich nicht verschieben könnte.«
»Dann solltest du das tun. Ich würde dich gerne jemandem vorstellen.«
War das der Moment, auf den ich die ganze Zeit hingearbeitet hatte? Wurde ich jetzt in den Kreis der Terroristen eingeführt? Ich fragte sie, worum es ging, aber sie wollte mir keine weiteren Auskünfte geben. »Das wirst du schon früh genug erfahren.«
Wir verabredeten uns für acht Uhr am Ausgang einer U-Bahn-Station. Von dort führte sie mich in eine Wohnsiedlung mit zwanzigstöckigen Retortenbauten, in der die unterste Schicht der Bevölkerung lebte. Der Aufzug in dem Haus, das wir betraten, funktionierte nicht, und wir mussten sechzehn Treppen emporsteigen, bis wir unser Ziel erreicht hatten.
Es war eine kleine Dreizimmerwohnung, die spartanisch möbliert war. In der Küche gab es eine alte Mikrowelle, eine Kühlbox und eine wackelige Spüle. Wie ich später erfahren sollte, wurde diese Wohnung nur benutzt, um neue Mitglieder in die Gruppe einzuführen. Sie war eine von vielen in jenem Viertel. Offenbar standen eine Reihe von Wohnungen leer, und jemand aus der Gruppe hatte gute Kontakte zur Hausverwaltung. Jedenfalls wurde jede Wohnung immer nur einmal benutzt. Das war ein Schutz, falls sich unter den Neulingen ein Verräter befinden sollte.
Das Zimmer, in das wir geführt wurden, war lediglich mit Matratzen ausgelegt, auf denen bereits etwa zehn Leute hockten. Kaum einer von ihnen war älter als ich. ÃuÃerlich waren sie nicht zu unterscheiden von den Studentinnen und Studenten, wie ich sie jeden Tag an der Hochschule traf. Es schien fast so, als kleideten sie sich absichtlich möglichst unauffällig. Mit meinen eingerissenen Jeans sah ich dagegen fast exotisch aus.
Einer von ihnen, ein groÃer, vierschrötiger Mann, der eher einem Bauarbeiter als einem Studenten ähnelte, erhob sich, um uns zu begrüÃen. Er stellte sich als Abraham vor und war offenbar, wie sich wenig später zeigte, der Chef der Gruppe. Ob das sein richtiger Name war, weià ich nicht, denn wir kannten alle nur die Vornamen voneinander. Ich fand es ironisch, dass ausgerechnet diejenigen, die in ihren Sitzungen Brandreden gegen das System und seine Hierarchien hielten, selbst eine solche Hierarchie replizierten, auch wenn davon offiziell natürlich keine Rede sein konnte.
Nachdem wir alle saÃen, eröffnete Abraham die Sitzung.
»Wir haben heute einige neue Interessenten bei uns«, verkündete er. »Deshalb werden wir noch einmal auf einige Grundlagen unserer Philosophie eingehen. Danach kann jeder entscheiden, ob er oder sie sich uns anschlieÃen möchte oder nicht.«
Er begann damit, uns zu erklären, dass der Brunnen der Erkenntnis nur
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