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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Mitarbeiter.
    Â»Vorgestern«, ergänzte ein Kollege.
    Fellner seufzte. Es war jedes Jahr dasselbe Lied. Der Hausmeister betrachtete die Versorgungseinrichtungen des Reviers als seinen Privatbesitz und ließ niemanden daran, der nicht vorher eine Reihe unerbittlicher Tests bestanden hatte, die nicht unbedingt etwas mit Fachkenntnis zu tun haben mussten.
    Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und nahm einen Schluck von seinem bereits seit einer halben Stunde kalten Kaffee. Die Bitterstoffe zogen seine Schleimhäute zusammen, und er unterdrückte ein leichtes Würgen. Sein Magen hatte sich in den letzten Wochen, in denen er kaum eine anständige Mahlzeit zu sich genommen hatte, abgehärtet. Geregeltes und gesundes Essen war die geringste Sorge, die Fellner in diesen Tagen hatte.
    Sein Chef, der sich in der Vergangenheit immer schützend vor ihn gestellt hatte, war unter massiven politischen Druck geraten, Fellner abzulösen und jemand anderen mit der Leitung der Untersuchungen zu beauftragen. Auch die veröffentlichte Meinung, angetrieben von diesem Schmierfinken Rupert Cassell, schlug in dieselbe Kerbe. Wenn es nicht in den nächsten Tagen einen Durchbruch bei den Ermittlungen gab, konnte er sich von seinen Kollegen verabschieden und würde wahrscheinlich den Rest seiner Dienstzeit in irgendeinem Kaff in der tiefsten Provinz fristen.
    Der Florist war nicht Fellners erster Serienmörder. Drei davon hatte er im Lauf seiner Karriere zur Strecke gebracht. Aber dieser hier entzog sich allen Gesetzmäßigkeiten. Er hinterließ keinerlei Spuren, er offenbarte keine eindeutige Opferstrategie, und er schlug in unregelmäßigen Abständen zu. Es gab bislang kein erkennbares Muster, bis auf die Trophäen, die er seinen Opfern herausschnitt.
    Fellner nahm sich den Stapel mit der ungeöffneten Morgenpost vor, der in seinem Eingangskorb lag. Wahrscheinlich wieder die übliche Mischung aus Drohbriefen, Beschimpfungen und falschen Verdächtigungen. Es war erstaunlich, wie viele Menschen in ihren Nachbarn, mit denen sie seit Jahren zusammenlebten, auf einmal einen gefährlichen Serienmörder vermuteten.
    Fellner liebte das Viertel, in dem er arbeitete, und die Menschen, die darin wohnten. Es waren ganz normale Leute, keine Heiligen oder Verbrecher. Aber gerade das, was ihm sein Revier so sympathisch machte, war den Stadtoberen ein Dorn im Auge. Schon länger stand das Viertel ganz oben auf der Sanierungsliste , ein euphemistischer Ausdruck für die Auslöschung jeglichen Charakters und den Ersatz durch eine nahezu klinisch sterile Atmosphäre mit möglichst viel zentralisiertem Kommerz. Noch gab es die kleinen Kneipenbetreiber und Ladenbesitzer, die den Handelskonglomeraten schon immer ein Dorn im Auge waren. Nach der Sanierung würden nur noch die Einheitsfassaden der Einheitsketten hier zu finden sein, die auch alle anderen Stadtbezirke dominierten.
    Fellner wusste, die Schreckenstaten des Floristen waren ein wunderbares Argument für die Befürworter der Sanierung, möglichst schnell mit der Zerstörung des Viertels zu beginnen. Zum Glück waren derzeit alle verfügbaren Kräfte durch die kommende Weltausstellung gebunden. Aber sobald dort alles fertiggestellt war, würden die Bagger endgültig hier anrücken.
    Gedankenverloren riss er einen Umschlag nach dem anderen auf und überflog die Inhalte oberflächlich. Es war, wie er es sich gedacht hatte. Denunziationen und Beschimpfungen. Sie wanderten alle in den großen Papierkorb neben seinem Schreibtisch.
    Er überlegte gerade, ob er den Rest des Stapels nicht seinem Assistenten überlassen sollte, als sein Auge auf einen Umschlag fiel, der aus dem Rest hervorstach. Die Anschrift war nicht handgeschrieben oder mit dem Computer ausgedruckt, sondern aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt.
    Fellner nahm sich den Umschlag vor und betrachtete ihn von allen Seiten. Wenn das ein Scherz sein sollte, dann hatte sich der Absender viel Mühe gegeben. Er öffnete vorsichtig die Klappe und zog ein Blatt hervor, auf dem ebenfalls ausgeschnittene Zeitungsbuchstaben aufgeklebt waren. Die Nachricht war denkbar einfach. Sie bestand lediglich aus einem Namen und einer Adresse und dem Zusatz Das ist der Florist .
    Ob es nun ein Scherz war oder nicht – für Fellner war es endlich der willkommene Anlass, um seinen Schreibtisch zu verlassen.
    Nur eine halbe Stunde später

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