Das Wörterbuch des Viktor Vau

Sicherheit.
    Und nahezu alles an diesem Tag ging schief.
    Unsere Leute hatten bereits im Vorfeld das SPA unauffällig observiert, weil wir nicht wussten, wer die Kontaktleute der Brunnensucher waren, und keine Aufmerksamkeit erregen wollten. Als Reinigungskräfte, Sekretärinnen und Monteure getarnt, hatten sie die Anlage gründlich inspiziert. Kameras wurden angebracht, mögliche Fluchtwege ermittelt und der beste Ort für den Zugriff festgelegt. Alles war also optimal vorbereitet.
    Doch leider hielten sich die Brunnensucher nicht an den ursprünglichen Zeitplan.
    Ob Abraham etwas ahnte? Oder war es einfach nur eine Vorsichtsmaßnahme? Jedenfalls betraten die Rebellen das SPA ganze vierundzwanzig Stunden vor der Zeit, die ich für meine Berechnungen erhalten hatte. Durch die Überwachungskameras hatte man in der Zentrale zwar sofort bemerkt, was passierte, aber das Einsatzteam war noch nicht vor Ort. So verstrich wertvolle Zeit, in der es den Brunnensuchern gelang, ihren Freiwilligen auf seine Reise zu schicken.
    Dem hastig zusammengerufenen Einsatztrupp gelang es lediglich, Abraham und vier seiner Handlanger zu fassen sowie die beiden Techniker des SPA , die ihnen bei ihrem Vorhaben geholfen hatten. Allerdings schwiegen die Festgenommenen beharrlich. Auch die ausgefeiltesten Methoden der Verhörspezialisten konnten ihnen nicht entlocken, wen sie in die Vergangenheit geschickt hatten.
    Am dritten Tag nach der Festnahme arrangierte Juli eine Gegenüberstellung zwischen Abraham und mir. Sie fand in einer kahlen Verhörzelle ohne jegliches Mobiliar statt. Der Anführer der Brunnensucher war mit Hand- und Fußfesseln an der Wand festgemacht.
    Der große, selbstbewusste Mann war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er trug einen grauen Gefängniskittel, und seine nackten Beine, die darunter hervorragten, waren blutbeschmiert. Auch das Gesicht wies deutliche Spuren von Misshandlungen auf. Aber seinen Augen konnte man ablesen, dass sein Wille ungebrochen war. Hasserfüllt funkelten sie mich an.
    Â»Ratte«, zischte er und spuckte mich an. Ich wischte mir den Speichel vom Ärmel und trat direkt vor ihn.
    Â»Ich kann alle vernichten, die mit dir und deiner Gruppe zu tun hatten«, erklärte ich ruhig. »Ich kann sie auch laufen lassen. Das hängt ganz allein von dir ab. Ich habe während meiner Zeit bei euch mehr erfahren, als du glaubst. Also überleg dir, wie viel Blut an deinen Händen kleben soll.«
    Er antwortete nicht, sondern starrte mich nur an. All meine Versuche, ihn zum Reden zu bewegen, schlugen fehl.
    Zwei Tage später war er tot. Woran, ob es eine Krankheit, Selbstmord oder gar Mord war, erfuhr ich nie. Ich fragte auch nicht danach.
    Seine Genossinnen und Genossen wurden zu langen Haftstrafen verurteilt.
    Eine Woche nach diesem Vorfall ließ mich Juli zu sich rufen.
    Â»Wir haben ein kleines Problem«, sagte er. »Dank deiner Arbeit wissen wir zwar, wohin die Brunnensucher ihren Agenten geschickt haben. Aber wir haben keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten.«
    Ich wies darauf hin, dass durch den vorgezogenen Start der Zeitreise die Parameter der Raum-Zeit-Gleichungen nicht mehr stimmten und die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass der Zeitreisende in einer völlig anderen Epoche gelandet war – wenn die ganze Sache überhaupt funktioniert hatte.
    Â»Das hat sie«, sagte Juli. »Die Wissenschaftler des SPA haben Veränderungen des Raum-Zeit-Kontinuums genau an der Stelle festgestellt, die als Zielgebiet bestimmt war.«
    Â»Das ist eigentlich unmöglich«, widersprach ich. »Ich habe eine Reihe von Parametern bewusst falsch eingegeben. Allein das garantiert schon, dass es Abweichungen geben muss .« Dann begriff ich. »Es sei denn …«
    Â»Es sei denn?«
    Â»Dass die Fehler, die ich in meine Berechnungen eingeschmuggelt habe, durch die vorgezogene Abreise kompensiert worden sind«, sagte ich. »Das wäre ein außergewöhnlicher Zufall, würde aber erklären, warum die Aktion der Brunnensucher erfolgreich war.«
    Â»Nehmen wir an, dass es so war«, sagte Juli. »Dann bist du letztlich verantwortlich dafür, dass sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnten. Und dass er vielleicht sogar funktioniert.«
    Was sollte das nun bedeuten? Wurde ein Sündenbock gesucht? Wollte Juli mich dafür über die Klinge springen lassen, dass die Aktion nicht so verlaufen war wie geplant?