Das Wörterbuch des Viktor Vau
geschehen. Schicken Sie mir die Fotos?«
»Sind schon in der Datenbank. Lust auf einen Kaffee?« Der Pathologe drehte den Körper wieder auf den Rücken. Wie eine Puppe, die ein Kind in einem Wutanfall zerrissen hat, dachte Fellner. Oder die systematisch auseinandergenommen wurde, um zu sehen, wie sie funktioniert.
»Ein ungewöhnlicher Fall.« Fellner schaufelte sich vier Löffel Zucker in den Espresso, den der Pathologe ihm vorgesetzt hatte. Sie saÃen in Ganudovs winzigem fensterlosem Büro, das direkt neben dem Obduktionsraum lag. Der Formaldehyd-Geruch war auch hier allgegenwärtig.
»Sie meinen wegen des Modus Operandi?« Ganudov hatte seinen weiÃen Kittel achtlos über die Lehne seines Bürostuhls geworfen. Er entleerte den Siebträger in eine Metallschachtel, die neben der Espressomaschine stand und früher einmal Gebäck enthalten hatte.
Fellner nickte. »Ãblicherweise hat ein Serientäter eine Handschrift. Die weist unser Mann auch auf, zumindest, was die Trophäen betrifft. Aber die Art, wie und wo er tötet, folgt keinem festen Muster. Opfer Nummer eins wird hastig in einer Ecke hinter einem Bauwagen getötet, die Leiche bleibt nahezu unversehrt. Opfer Nummer zwei unter einer Brücke, mit zahlreichen Messerstichen im Brust- und Bauchbereich. Und Opfer Nummer drei wird sorgfältig zersägt und verpackt und vor der Tür eines Bordells deponiert.«
»Er will, dass sie gefunden werden«, mutmaÃte der Pathologe und trank seine Tasse in einem Zug leer. »Alle sollen wissen, dass er da drauÃen ist und seine Arbeit macht. Und das unterschiedliche Vorgehen bei der Tatausführung? Vielleicht übt er noch und sucht nach der Methode, die ihm am meisten zusagt.«
»Ich weià nicht.« Fellner rührte immer noch seinen Espresso um, um den Zucker möglichst gleichmäÃig zu verteilen. Er wusste aus Erfahrung, wie stark das Gebräu des Pathologen war. »Es ist keine GesetzmäÃigkeit bei der Auswahl der Frauen zu erkennen, keine bei den Tatorten und keine bei der Technik. Das scheint mir etwas zu viel Chaos für einen Serienkiller zu sein.«
Der Pathologe lehnte sich zurück und lächelte schief. »Sie brauchen noch ein paar Opfer, gospodin . Dann werden Sie auch das Muster erkennen.«
»Was meinen Sie, hat er eine medizinische Ausbildung?«
»Ein neuer Jack the Ripper?« Der Pathologe schüttelte den Kopf, während er wieder in seinen Kittel schlüpfte. »Bestimmt nicht. Unser Mann ist ein Amateur, ein guter Heimwerker, wenn Sie so wollen.«
Fellner leerte seine Tasse und schüttelte Ganudov die Hand. »Danke für den Espresso. Der wird mich bis Mitternacht wachhalten.«
»Hoffentlich noch länger«, grinste der Pathologe. »Dann fassen Sie mehr Ãbeltäter und ich habe weniger zu tun.«
4.
Astarte traf Viktor Vau beim Frühstück in seinem Stammbistro. Am Telefon hatte er ihr erklärt, dass er dringend verreisen müsse und keine Zeit mehr habe, in die Klinik zu kommen. Sie möge ihn bitte hier treffen, um letzte Anweisungen für die Zeit seiner Abwesenheit entgegenzunehmen.
Als sie eintrat, war sie gespannt, ob auch Enrique da sein würde. Aber hinter dem Tresen stand nur ein älterer Kellner mit dunklen, sorgsam gebürsteten Haaren, die an den Schläfen bereits deutlich zurückwichen.
Viktor war schon da und winkte sie zu sich an seinen Tisch. Nachdem er ihr, ohne sie zu fragen, einen Milchkaffee und ein Croissant bestellt hatte, zog er eine Dokumentenmappe aus seiner Aktentasche.
»Ich muss leider heute noch die Stadt verlassen«, begann er. »Deshalb ist es unabdingbar, dass Sie mehr Hintergründe über meinen Versuch erfahren, um ihn weiterhin ordnungsgemäà durchzuführen.«
Er öffnete die Schlaufe und zog ein Blatt hervor. »Ich muss nicht betonen, dass alles, was ich Ihnen sage, in höchstem MaÃe vertraulich ist.«
»Keine Sorge«, erwiderte Astarte. »Sie können sich auf mich verlassen.«
Er sah sie prüfend an. »Ein gewichtiges Wort, das Sie leichthin aussprechen. Aber ich weiÃ, was Sie damit meinen. Das ist wieder einmal ein Beispiel für die Unzuverlässigkeit unserer Sprache, finden Sie nicht?«
Astarte nickte. Sie fühlte sich unwillkürlich in ihre Kindheit zurückversetzt. Auch ihr Vater hatte diesen Blick gehabt, wenn sie etwas angestellt hatte. Wie
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