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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Schauspieler oder Popmusiker aus. Niemand hätte vermutet, dass es sich bei ihm um einen illegalen Einwanderer ohne große Mittel handelte. Falls das nicht auch nur eine seiner Geschichten ist, dachte Enrique.
    Astarte umarmte Marek freundschaftlich. Enrique kam es vor, als ob sein Freund sie etwas länger als nötig umschlungen hielt. Er war doch nicht etwa eifersüchtig? Nein, redete er sich ein, er befand sich gern in Astartes Gegenwart, weil sie eine interessante Person war, zu der er sich hingezogen fühlte. Rein freundschaftlich. Das war alles.
    Thuras Buchladen befand sich im Fabrikviertel in der Nähe des Flusses. Warum die Inhaberin gerade diese Lage gewählt hatte, zeigte ein Blick in das Schaufenster des kleinen Geschäfts. Hier wurde ausschließlich anarchistische und aufrührerische Literatur angeboten. Vor der Tür stand ein Metallkorb, vollgestopft mit abgegriffenen Pamphleten, die für kleines Geld zu haben waren. Enrique fragte sich, wer auch nur einen Credit dafür ausgeben mochte.
    Anstatt einer Fensterdekoration hatte man einfach ein Bücherregal von innen gegen die Scheibe gerückt, um möglichst viele Werke präsentieren zu können. Auch hier dominierten Kampfschriften und Werkausgaben anarchistischer Vordenker. Um das Fenster herum waren ausgerissene Plakate angeklebt, die zu einer Kundgebung für die Rechte der Arbeiter hier und zu einem Streik für die Freiheiten der Bürger dort aufriefen.
    Marek gefiel das natürlich. Es entsprach seiner Natur, die prinzipiell keinerlei Autorität anerkannte. Streiks, Demonstrationen, Verweigerung, Sabotage, das war genau seine Welt. Enrique seufzte innerlich. Er wusste bereits jetzt, dass seine Geduld auf eine harte Probe gestellt werden würde.
    Sie betraten den kleinen Laden. Enrique zwinkerte, um sich im Halbdunkel des Raums zu orientieren. Das, was sich außen angekündigt hatte, setzte sich im Inneren nahtlos fort. Die Wände wurden völlig von Regalen verdeckt, die bis zum Bersten gefüllt waren mit Büchern und Broschüren, von denen viele, dem Geruch nach zu urteilen, schon lange Jahre vergeblich auf einen Käufer warteten. In der Mitte des Raums stand ein Tisch, auf dem sich Zeitungen, Flugschriften und Bücher türmten. Drei junge Männer standen um den Tisch herum und wühlten, auf der Suche nach was auch immer, das Unterste nach oben. Astarte ging zielstrebig auf eine kleine Theke zu, die sich am Ende des Raums befand.
    Â»Thura!«, rief sie. »Wo steckst du? Ich habe ein paar Freunde mitgebracht.«
    Aus einer Tür hinter der Theke kam eine mittelgroße Frau, die vielleicht sechzig Jahre alt sein mochte. Ihr grauweißes Haar war zu einem langen Zopf zusammengebunden. Sie trug eine schwarze Cargohose und darüber ein weites, ebenfalls schwarzes Baumwollhemd.
    Die beiden Frauen umarmten sich und küssten sich auf die Wangen. Dann stellte Astarte ihre Begleiter vor. »Enrique und Marek sind auch noch nicht so lange in der Stadt«, sagte sie.
    Â»Außenseitertum verbindet«, lachte Thura. »Ich weiß, wovon ich spreche. Und ich weiß, was ich sehe.«
    Als wolle sie ihre Worte unterstreichen, berührte sie Marek an den Schultern. »Dieser junge Mann zum Beispiel sucht seit langer Zeit nach einem Betätigungsfeld für seine Talente. Er hat das Gefühl, dass in dieser Gesellschaft nicht alles mit rechten Dingen zugeht, und möchte etwas dagegen tun, weiß aber nicht, was. Er hat keine Papiere und muss ständig auf der Hut sein, um nicht in die Hände der Polizei zu fallen.«
    Marek starrte sie mit offenem Mund an. »Sind Sie eine Hellseherin?«
    Thura lachte erneut. »Nein, über diese Gabe verfüge ich leider nicht. Aber ich kann telefonieren. Ich habe mit Astarte gesprochen, und sie hat mir natürlich ein wenig über euch erzählt. Und außerdem habe ich in den letzten Wochen so ein paar Informationen über einen jungen Mann erhalten, der im Kuppelquartier immer wieder die Überwachungskameras außer Gefecht setzt.«
    Â»Und was wissen Sie über mich?«, fragte Enrique. Es gefiel ihm nicht, dass die Gespräche, die er mit Astarte geführt hatte, offensichtlich nicht vertraulich behandelt wurden.
    Â»Keine Sorge, ich weiß nur, dass du auch neu in der Stadt bist. Und ein großer Freund von Recht und Ordnung, was dich eigentlich daran hindern müsste, mein Geschäft zu betreten.

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