Das Wörterbuch des Viktor Vau
antwortete. Einen Augenblick lang schien es so, als würde er jede Sekunde in seinem Sessel einschlafen, aber dann kniff er mehrmals die Augen zusammen und beugte sich vor, um nicht der Versuchung der weichen Rückenlehne zu erliegen.
Er griff in die Tasche und holte ein zusammengewickeltes Stofftaschentuch hervor. Mit zwei Fingern zog er einen blauen Kristall heraus, der nicht gröÃer war als eine Erbse.
»Dies ist ein Videospeicher, der mit der Raumkapsel auf die Erde gekommen ist. Oder, besser gesagt, in unsere Zeit. Die Vorrichtung zum Auslesen des Kristalls befindet sich ebenfalls in der Kapsel.«
»Ein Videospieler mit Kristallspeicher?« Marek starrte Vau mit groÃen Augen an. »Das haben Sie uns vorhin gar nicht gesagt.«
»Sicher eine faszinierende Technologie«, erwiderte Vau trocken und wickelte den Kristall wieder in das Tuch. »Der Inhalt des Films war allerdings weniger faszinierend. Wie ich bereits sagte, habe ich nur wenig verstanden. Der erste Satz der Botschaft war jedoch unmissverständlich. Tötet Viktor Vau .«
»Wie bitte?«, fragte Astarte.
Doch Vau konnte oder wollte nichts hinzufügen. Er blickte nur stumm und erschöpft in die Runde.
Marek brach zuerst das Schweigen. »Warum?«, war alles, was er hervorbringen konnte.
»Wenn ich das wüsste, könnte ich wenigstens entsprechend reagieren. Aber ich weià es nicht.«
»Aber irgendetwas müssen Sie doch mitbekommen haben«, bemerkte Enrique zweifelnd.
»Nur Bruchstücke. Und das ist ja das Absurde: Die Aufforderung, mich zu töten, hat offenbar etwas damit zu tun, dass ich die Grundlage für diese Sprache der Zukunft gelegt haben soll. Aber selbst wenn das so wäre, warum sollte man mich dafür umbringen wollen?«
»Und diese Sprache war exakt die, welche Sie in Ihrem Wörterbuch notiert haben?«, fragte Astarte.
»In groben Zügen, ja. Zumindest war sie so ähnlich, dass ich die geschriebene Botschaft recht schnell entziffern konnte. Mit der gesprochenen Sprache verhielt es sich allerdings anders.«
»Eine eigene Sprache?«, staunte Marek. »Sie haben eine komplett neue Sprache erfunden?«
Viktor nickte. »Es war mehr eine intellektuelle Ãbung, eine Spielerei sozusagen. Erst später habe ich festgestellt, dass sie tatsächlich eine praktische Anwendung hat.« Er sah Astarte an. »Sie wissen, wovon ich spreche.«
»Die Versuche, die Professor Vau in der Klinik durchführt und bei denen ich ihm assistiere, haben etwas mit dieser Sprache zu tun«, erklärte sie.
»Dabei muss man wissen, dass ich meine Sprache zunächst als ein rein logisches System entwickelt habe, das versucht, eine â und exakt nur eine â Bezeichnung für jedes Phänomen in unserer Welt bereitzustellen. Erst in einem zweiten Schritt habe ich dieses vollkommene System mit den Elementen einer Plansprache kombiniert, um es auch sprechbar zu machen.«
»Und es war Ihre Sprache, die in dem Video gesprochen wurde«, stellte Enrique fest.
»So ist es. Allerdings war die Aussprache doch ziemlich anders, als ich es mir vorgestellt habe.«
»Weil die Sprache lebt«, warf Astarte ein. »Das ist ja auch das Problem von Esperanto und den anderen Plansprachen gewesen. Die Erfinder wollten etwas Unveränderliches schaffen, aber sobald die Sprache einmal in Umlauf war, wurde sie aus der Praxis heraus verändert und erweitert.«
»Leider«, seufzte Vau. »Dadurch haben sie auch die strenge Logik verloren, mit der sie ursprünglich entwickelt worden sind.«
»Warum sind Sie dann so niedergeschlagen?«, fragte Marek. »Es muss Sie doch ungemein stolz machen, dass die Menschen der Zukunft Ihre Sprache sprechen.«
Viktor blickte den jungen Mann nachdenklich an. »Es beunruhigt mich eher«, sagte er schlieÃlich. »Ich frage mich nämlich, wie das passieren konnte. Oder besser gesagt, wie das passieren können wird, denn wir sprechen ja über ein Ereignis in der Zukunft. Ich habe meine Sprache bislang nicht veröffentlicht und plane auch nicht, das zu tun. Wie kann sie dann also zur Grundlage einer Sprache der Zukunft werden? Und vor allen Dingen: Warum soll ich deshalb sterben?«
»Wäre es nicht möglich, dass die Auswirkungen, die Sie bei Ihren Patienten beobachten, vielleicht in der fernen Zukunft die gesamte Gesellschaft betreffen?«, fragte Astarte.
»Welche
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