Das Wörterbuch des Viktor Vau
Auswirkungen? Logik? Vernunft? Rationalität? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand dagegen etwas haben könnte. Das ist es doch gerade, was uns vom Tier unterscheidet und die groÃen Errungenschaften der Zivilisation möglich gemacht hat.«
»Können wir diese Diskussion vielleicht vertagen?«, mischte sich Enrique ein. »Was mich viel mehr interessiert, ist, warum Sie geflohen sind, Professor Vau. Die Botschaft mag dazu aufrufen, Sie zu töten. Aber glauben Sie ernsthaft, die Regierungen dieser Epoche würden der Aufforderung nachkommen?«
»Ich weià es nicht, junger Mann.« Vaus Augen nahmen einen leeren Blick an. »Ich gebe Ihnen recht, vielleicht wäre es klüger gewesen, den Kristall dort zu lassen und einfach abzuwarten, was geschieht. Andererseits hätte eine Entschlüsselung des Videos auf jeden Fall dazu geführt, dass ich über meine Arbeiten Rechenschaft ablegen muss. Und wer weiÃ, ob nicht doch irgendjemand dann den Entschluss gefasst hätte, mich umbringen zu lassen.«
»Ich glaube das nicht«, sagte Marek. »Eher hätte man Sie dazu gezwungen, für die Regierung zu arbeiten.«
»Das wäre nicht weniger schlimm. Ich würde meine wissenschaftliche Freiheit verlieren und müsste Anweisungen folgen.«
»Ihre jetzige Situation ist da auch nicht viel besser.« Enrique kratzte sich am Kopf. »Als Flüchtling können Sie Ihre Arbeit nicht mehr fortsetzen. Wobei ich mich frage, ob man Ihnen überhaupt gefolgt ist. Solange niemand die erste Nachricht entziffert hat, weià auch keiner, dass der Kristall fehlt.«
»Das ist nur eine Frage der Zeit.« Vau pochte auf die Jacketttasche, in der sein Wörterbuch steckte. »Es wissen zu viele Kollegen von meiner Arbeit. Und mein alter Freund Flavio Volante, der mir bei der Flucht geholfen hat, wird mich nicht ewig schützen können. Dann werden sich alle wie die Geier auf mein Notizbuch stürzen.«
»Warum vernichten Sie es dann nicht einfach?«, schlug Astarte vor. »Wenn Ihr Wörterbuch nicht mehr existiert, sind Sie frei.«
Vau starrte sie fassungslos an. »Von Ihnen hätte ich einen solchen Vorschlag nun wirklich nicht erwartet, Astarte. Dieses Buch« â er zog das abgegriffene Notizbuch hervor â »ist mein Lebenswerk. Sie erwarten nicht ernsthaft, dass ich es zerstöre.«
»Aber wenn es tatsächlich die Zukunft so stark beeinflusst, dass man Sie dafür töten lassen will â wäre es da nicht das Beste, es aus der Welt zu schaffen?«
Viktor pochte sich an die Stirn. »Dann müssten Sie mich gleich mit aus der Welt schaffen, denn solange das Wissen hier drin steckt, wird die Regierung versuchen, es da rauszuholen. Und vergessen Sie bitte nicht, diese Sprache ist mein Lebenswerk. Davon werde ich mich nicht trennen.«
»Auch dann nicht, wenn Sie wüssten, dass Sie damit einen groÃen Schaden anrichten?«
»Es ist nicht die Entdeckung des Wissenschaftlers, die den Schaden anrichtet, sondern das, was die Menschen daraus machen. Selbst wenn ich mit meinem Wörterbuch von heute auf morgen aus diesem Leben verschwinden würde â irgendwann würde jemand anders dieselben Gedanken haben. Die Wissenschaft lässt sich nicht aufhalten.«
Viktor erhob sich mühsam aus seinem Sessel. »Und jetzt möchte ich gerne schlafen gehen, wenn Sie keine Einwände dagegen haben.«
Er wollte das Notizbuch wieder zurück in die Tasche stecken, hielt aber inne. »Vielleicht sollte ich das, was meine Verfolger wollen, nicht immer bei mir tragen«, sagte er.
»Ich bewahre es für Sie auf«, entschied Astarte.
»Das ist keine gute Idee. Als meine Assistentin werden Sie als eine der Ersten ins Visier meiner Verfolger geraten.«
Er hielt Enrique das Notizbuch hin. »Ich glaube, bei Ihnen ist mein Werk am besten aufgehoben, junger Mann. Würden Sie es für mich in Verwahrung nehmen?«
Enrique wirkte nicht begeistert, nahm das Buch dann aber schlieÃlich entgegen. »Danke für Ihr Vertrauen, Professor Vau. Sie können sich darauf verlassen, dass ich es wie meinen Augapfel hüten werde.«
»Das sind starke Worte.« Die alte Strenge klang, trotz seiner Müdigkeit, durch. » Verlassen . Es ist Ihnen bewusst, welche Doppeldeutigkeit in diesem Wort steckt? Aber ich habe wohl keine Wahl.«
2.
Es war bereits dunkel, als Enrique seine
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