Das Wörterbuch des Viktor Vau
Wohnung erreichte. Sie war kleiner als die, in der sie Viktor Vau untergebracht hatten, und wesentlich unpersönlicher. Es gab weder Bilder an den Wänden noch Pflanzen auf den Fensterbänken. Enrique wusste, dass er so nicht immer würde leben können. Irgendwann würde er kein Fremder mehr sein und sich entscheiden müssen, wie er den Rest seines Lebens hier verbringen wollte. Doch im Augenblick genügte ihm diese Kargheit, die ihn immer wieder daran erinnerte, dass er nicht zum Vergnügen in die Stadt gekommen war.
Er setzte sich an den Küchentisch und zog Viktor Vaus Notizbuch hervor. Der schwarze Ledereinband war von der jahrzehntelangen Benutzung abgegriffen, die aufgesetzten Nieten waren verkratzt. Er streifte das Gummiband ab. Das also sollte das Buch sein, das die ganze Welt (oder zumindest diejenigen, die von seiner Existenz wussten) in Atem hielt?
Vorsichtig schlug er das Buch auf. Auf der ersten Seite konnte man gerade noch die verblassten Initialen seines Besitzers erkennen. Die Hälfte der Seiten war mit Tabellen gefüllt, die alle in einer winzigen, exakten Handschrift beschriftet waren. Diese kleine Schrift â das war fast schon die Arbeit eines Feinmechanikers, dachte Enrique. Er beugte sich über die erste Seite, um den Text zu lesen, den Viktor Vau seinem Wörterbuch vorangestellt hatte.
»George Dalgarno hat einmal gesagt: âºDie Arbeit des Philosophen muss der des Linguisten vorausgehen.â¹ In diesem Sinne enthalten die folgenden Seiten zunächst einmal die erkenntnistheoretischen Grundlagen einer neuen Sprache, bevor die Sprache selbst mit ihren Begriffen, Regeln und Zeichen aufgeführt wird.
Meine Aufgabe ist es hier, ein Inventar der Welt zu schaffen, einen Katalog aller nur denkbaren Dinge und Begriffe. Dieses Inventar muss nicht nur allumfassend in dem Sinne sein, dass es jeden existierenden Begriff und jedes existierende Ding erfasst, sondern auch alle in Zukunft möglichen Begriffe und Dinge. Nur auf diese Weise kann ein solcher Katalog den Anspruch erheben, tatsächlich die Grundlage einer unveränderlichen Sprache zu bilden, deren Regeln nicht nur jetzt, sondern auch auf Dauer Bestand haben.
Zugleich muss aber ein Weg gefunden werden, dieses allumfassende Inventar zu begrenzen, denn die Sprache kann nicht für jedes Ding und jeden Begriff ein eigenes Wort enthalten. Sie wäre dann ebenfalls allumfassend, allerdings könnte kein Mensch sie mehr erlernen. Schlimmer noch, neue Begriffe und Dinge würden neue Wörter erfordern und damit die Struktur der Sprache infrage stellen.
Als einzige Methode bleibt also, die Bezeichnungen der Dinge und Begriffe aus Grundzügen zusammenzusetzen. Diese Grundzüge müssen so gewählt sein, dass sich aus ihnen tatsächlich auf jeden Fall streng logisch ein Wort für einen Begriff oder ein Ding in dieser Welt ableiten lässt.«
Enrique überflog die weiteren philosophischen Vorbemerkungen und schlug eine der Tabellen auf. Sie befasste sich offensichtlich mit der Ableitung allgemeiner Begriffe. Wenn er Vaus Theorie richtig verstanden hatte, dann stellten diese Gliederungen eine vollständige Klassifikation der Wirklichkeit dar.
Die ersten Abbildungen wirkten wie stilisierte Blüten, viele kleine, miteinander verbundene Kreise, in denen Begriffe standen. Vielleicht war Vau ein Blumenliebhaber. Darunter waren durch Punkte voneinander getrennte Zahlen notiert, die offenbar auf weitere Tabellen verwiesen.
Enrique blätterte weiter. Nach den Blütenbäumen folgten technisch anmutende Tabellen, die nach Kategoriengruppen unterteilt waren und auf die sich die Klassifikationszahlen in den Baumgrafiken bezogen.
Er folgte einigen der scheinbar unendlichen Pfade. Einer begann mit einer Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Speziellem . Das Spezielle wiederum unterteilte er in die beiden Zweige Schöpfer und Geschöpfe . Die Geschöpfe verzweigten in die beiden Kategorien kollektiv und distributiv , die distributiven Geschöpfe wiederum in Substanzen und Akzidenzien .
Enrique fuhr mit dem Finger an den weiteren Unterteilungen entlang. Am Ende des sich immer wieder verzweigenden Baums standen Begriffe für öffentliche Beziehungen, von Viktor Relationen genannt: zivil, rechtlich, militärisch, kirchlich und so weiter.
Auch die weiteren Tabellen enthielten Verzweigungen ähnlicher Art. Immer wieder fragte sich Enrique, wie es Vau hinbekommen hatte,
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