Das Wörterbuch des Viktor Vau
so winzige Buchstaben so akkurat aufs Papier zu bringen. Auch wenn er an manche der Seiten mit Klebestreifen ein oder zwei weitere Blätter angeklebt hatte, die sich zu gröÃeren Ãbersichten ausklappen lieÃen, waren die Tabellen dennoch so umfangreich, dass man an bestimmten Stellen eine Lupe benötigte, um die Worte entziffern zu können.
Wenn man statt der Tabellen die Begriffe mit Linien verband, so würde sich auch optisch ein Gebilde ergeben, das einem sich mehr und mehr verästelnden Baum ähnlich sah. Enrique versuchte sich vorzustellen, wie es wohl aussehen mochte, wenn alle diese Verzweigungen auf einem einzigen groÃen Blatt zusammengefasst waren. Ob sie wohl eine Gestalt ergaben, eine höhere Ordnung? Oder würde diese Gestalt fraktal sein wie die Adern eines Blattes, die sich immer und immer wieder in unterschiedlichen MaÃstäben wiederholten?
Er fühlte sich an Hypertext erinnert, jene Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts, bei der die Begriffe ebenfalls miteinander durch Querverweise verbunden wurden und den Leser so immer tiefer in ein Gestrüpp von Texten locken konnten, bis er den Ausgangspunkt aus den Augen verloren hatte. War das vielleicht auch das Prinzip, dem Viktor Vau bei der Konstruktion seiner Tabellen gefolgt war?
Nach der Einleitung und den Tabellen folgte das eigentliche Wörterbuch. Ihm voran stand eine Grammatik, in der die Verwendung der nachfolgenden Grundbegriffe und ihrer Modifikatoren, wie Vau sie nannte, geregelt wurde. Enrique sprach einige der Wörter laut vor sich hin und war überrascht davon, welche beruhigende Wirkung sie auf ihn hatten. Es war, als habe sein Gehirn nur darauf gewartet, diese Begriffe zu lesen, um unverzüglich in eine natürliche Synchronisation mit dem Text zu fallen.
Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben, und studierte die restlichen Seiten des Notizbuchs.
Die Kategorien, die Vau auf den vorigen Seiten abgeleitet hatte, waren von ihm mit Buchstaben und Zahlen klassifiziert worden. Im Wörterbuch ordnete er diesen Klassifikationen Wörter zu, die von der Grundform der Kategorie auf der obersten Ebene ausgingen und durch Zusätze so verändert werden konnten, dass sie bis auf den untersten Zweig der Verästelung hinunterreichten. Durch Kombinationen verschiedener solcher Begriffe lieÃen sich neue Wörter und Wortgruppen bilden, die den bezeichneten Gegenstand exakt beschrieben.
Als Beispiel hatte Vau das Wort für lesen gewählt. In der ersten Kombinationsstufe wurde es mit Vorsilben kombiniert, die bezeichneten, was gelesen wurde:
ler â Grundform
bi ler â ein Buch lesen
ta ler â eine Zeitung lesen
ma ler â eine Illustrierte lesen
si ler â ein Schild lesen
u ler â eine Gebrauchsanweisung lesen
Im zweiten Schritt konnte man das, was man las, noch präzisieren:
ma biler â ein dickes Buch lesen
ho taler â die heutige Zeitung lesen
ma siler â ein groÃes Schild lesen
In einem weiteren Schritt war es möglich, durch zusätzliche Vor- und Nachsilben das, was man las, abermals zu konkretisieren:
mabiler ve â ein dickes, in Leder gebundenes Buch lesen
maler ase â eine Illustrierte von dieser Woche lesen
Weitere Kombinationen waren möglich, aber die Worte wurden dadurch immer unhandlicher. So schlug Vau selbst vor, die exakten Bezeichnungen in zwei Begriffe aufzuteilen:
mabilerve atedebidomacit â ein dickes, in Leder gebundenes Buch, das aus der Bibliothek dieser Stadt ausgeliehen wurde, genau in diesem Moment lesen
Enrique musste lächeln. Die Unperfektheiten der gesprochenen Sprache, die immer noch mehrere Worte benötigte, um ein Phänomen exakt zu bezeichnen, hatte Vau in seiner Schriftsprache endgültig beseitigt, wie er erklärte. Hier konnte alles, aber auch wirklich alles, was ein Phänomen beschrieb, in einem Begriff ausgedrückt werden.
Die Schrift selbst stellte dabei eine merkwürdige Mischung aus Zeichen dar, die eher an das Arabische als an eine europäische Sprache erinnerten. Das lag sicher auch daran, dass sie nahezu alle auf einer waagerechten Linie basierten, von der aus sich Haken, Kringel oder Kreise in verschiedene Richtungen abhoben.
Enrique nahm einen Zettel und schrieb einige der Zeichen ab. Sie gingen ihm erstaunlich schnell von der Hand. Offenbar hatte Vau bei ihrer Entwicklung die Möglichkeit der
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