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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Handschrift berücksichtigt.
    Enrique lehnte sich zurück und betrachtete die Zeichen, die er aus dem Buch kopiert hatte:

    Laut den Anweisungen aus dem Notizbuch konnten sie nun noch mit weiteren Elementen kombiniert werden: schrägen oder geraden Linien am Zeichenanfang oder Zeichenende, Halbkreisen oder Punkten sowie Haken aller möglichen Formen. Das Ergebnis war eine Schrift, die ihn an etwas erinnerte, was er einmal in einem Buch gelesen hatte. Es nannte sich Stenografie, Kurzschrift, und war eine ähnlich aussehende Abfolge von Strichen und Kringeln, die allerdings dazu dienen sollte, Buchstaben und Lautfolgen der Alltagssprache kurz und knapp zu erfassen.
    Während die Stenografie aber nur das Bestehende wiedergab und sich nicht um die Inhalte der Wörter scherte, war Viktor Vaus Schrift genau das Gegenteil: Sie definierte erst das, was dann anschließend ausgesprochen wurde.
    Enrique ging zur Spüle und trank ein Glas Leitungswasser. Dabei fragte er sich, ob es für die Sprache von Viktor Vau, wenn sie gesprochen wurde, nicht auch wieder eine Kurzschrift gab, die dann ja nichts anderes war als eine noch kürzere Variante dieses umfangreichen Klassifikationssystems.
    Er schloss einen Moment lang die Augen.
    Dann holte er das NetPad aus seinem Schrank. Er legte es neben das Wörterbuch und blätterte zum Anfang zurück. Diesmal untersuchte er jede Seite genauer. Schließlich fand er, was er erwartet hatte, und begann, das NetPad mit Notizen zu füllen.
    3.
    Joel Winter stand auf dem Platz der Ewigen Union und betrachtete den Rektorenpalast. Es war vier Jahre her, dass er sich zum letzten Mal an diesem Ort aufgehalten hatte. Vier Jahre, in denen sich eine Menge in der Stadt verändert hatte. So thronte über dem gewaltigen Bauwerk des Palastes jetzt eine riesige Glaskuppel. Eine schmale Fußgängerbrücke führte von dort geradewegs in das zehnte Stockwerk des nebenstehenden Friedensturms, auf dessen Dach sich der Landeplatz für die Gyrokopter befand.
    Direkt nach dem Aufbruch von Fitzsimmons und de Moulinsart war auch er von Agua Caliente hierhergeflogen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen verfügte er über das sichere Wissen, dass sich Viktor Vau in der Stadt befand. Allerdings gab er sich keinen Illusionen hin. Die beiden Dienste würden schnell herausfinden, dass sich Vau zurück in die Höhle des Löwen begeben hatte.
    Winter war klar, dass sein Status hier ein anderer war als in Dagombé. Er konnte sich zwar frei bewegen und musste keine Repressalien fürchten, solange sich seine Widersacher an den Ehrenkodex der Geheimdienste und die Abmachung zur Zusammenarbeit bei der Raumkapsel hielten, aber selbstverständlich wurde er seit seiner Ankunft überwacht. Er konnte die beiden Männer sehen, die seinem Taxi vom Flughafen bis hierher gefolgt waren und ihn vom Aufgang zur Unionsbrücke aus beobachteten. Sie gaben sich nicht einmal große Mühe, ihr Interesse an ihm zu verbergen. Und natürlich gab es noch einen dritten Beobachter, der sich allerdings nicht zu erkennen gab. Winter kannte das Spiel, er hatte es selbst oft genug gespielt.
    Winter schlenderte über den Platz in Richtung Ministerium des Inneren Friedens. Außer ihm bevölkerten nur einige Reisegruppen den gewaltigen Platz, in dessen Mitte das Denkmal für die Statuten der Unionscharta aufragte. Seine Ausmaße waren ebenso übertrieben wie alles in diesem Viertel. Schon während seiner Zeit als die rechte Hand von Fitzsimmons hatte sich Winter immer gefragt, was die Dynastie zu diesem Größenwahn antreiben mochte. Gut, die Epoche der unsicheren Postdemokratie war vorüber und die Dynastie hatte die unangefochtene Vorherrschaft übernommen. Das erklärte aber nicht ihre Vorliebe für diesen Monumentalismus, über den auch Fitzsimmons nur spotten konnte. Man mochte über den alten Fuchs denken, was man wollte, er hatte einen gewissen Stil, was ihn von de Moulinsart unterschied. Natürlich war auch Fitzsimmons ein Opportunist, und er hätte seine Meinung nie öffentlich geäußert. Aber Winter war bekannt, dass seinem ehemaligen Lehrmeister manches nicht gefiel, was sich in den Gängen des Rektorenpalastes abspielte.
    Winter verstand heute nicht mehr, warum er es überhaupt so lange in dieser Stadt ausgehalten hatte. Anfangs hatte ihm die Geheimdiensttätigkeit Spaß gemacht. Allerdings war die anfängliche Hochstimmung

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