Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
verrückter, als er bislang angenommen hatte. Fest stand: Ganz normal war sie nicht.
» Wer ist da? «, fragte eine verschlafene Stimme in der Dunke l heit.
Niccolo hob skeptisch eine Augenbraue. » War das ein Dr a che? «
Das Mädchen trat tiefer ins Innere des Karrens. Er konnte nur noch ihren struppigen Hinterkopf sehen. Das wilde Haar starrte vor Schmutz. Er fand sie ziemlich unappetitlich, zumal sie nicht besser roch als das, was in diesem Wagen gefangen gehalten wurde.
» Wir brauchen Lich t «, sagte er noch einmal und erwartete keine Antwort. Seit sie ihn losgelassen hatte, tat sie so, als würde er gar nicht existieren.
Die Stimme meldete sich erneut. » Wer seid ihr? «
» Wer bist du? «, fragte Niccolo.
» Wo ist der Drache? «, fragte das Mädchen.
» Ihr gehört nicht zu den Gauklern, oder? «
Das Mädchen drehte sich zornig um und drängte sich an Niccolo vorbei zur Tür. » Hier ist kein Drache. Der alte Mann im Teehaus hat gelogen. «
Niccolo räusperte sich. » Aber es sind Drachen außen auf den Wagen gemalt. «
» Siche r «, gab sie verächtlich zurück, » g enau wie auf jeden Tempel. Und in denen gibt es auch keine echten Drachen. Glaub mir – ich hab nachgesehen. «
» He y «, sagte die Stimme in der Finsternis. Sie war männlich und klang nicht besonders gefährlich. » Wartet! Nicht wegg e hen! «
» Für mich gibt ’ s hier nichts zu tu n «, sagte das Mädchen, lugte vorsichtig ins Freie und schlüpfte hinaus.
» Lasst mich fre i «, verlangte der Unbekannte.
Sie verschwand aus dem Rechteck der Tür und war fort. Niccolo stand unschlüssig im Halbdunkel, schaute ihr ratlos hinterher, dann zurück zum anderen Ende des Wagens. Schwä r ze nistete dort wie eine massive Wand.
Er machte vorsichtig einen weiteren Schritt in diese Ric h tung. » Bist du ein Gefangener der Gaukler? «
» Würde ich dich sonst bitten, mich freizulassen? «
» Ich kann dich nicht sehen. Es ist zu dunkel. « Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: » Man hat uns gesagt, hier drinnen sei ein Drache. «
» Das bin ich. «
» Drachen sind … hm, groß. Dachte ich. «
Die Stimme räusperte sich. » Das ist eine lange Geschichte. Also, bitte … Ich bin hier eingesperrt. Mach einfach das Gitter auf, und lass mich gehen. Ich mache euch keine Probleme. Wirklich nicht. Du wirst mich nie wiedersehen, das schwöre ich. «
Niccolo versuchte, mit zusammengekniffenen Augen die Schwärze zu durchdringen. Aber er sah nicht einmal Gitterstäbe, geschweige denn das, was sich dahinter befand. » Bist du nun ein Drache oder nicht? «
Bevor er eine Antwort erhielt, bemerkte er in seinem Rücken eine Bewegung – und dann war da plötzlich Licht. Als er herumwirbelte, stand das Mädchen direkt hinter ihm. Sie war vollkommen lautlos zurückgekehrt. In ihrer Hand hielt sie einen runden Papierlampion.
» Ärge r «, sagte sie einsilbig.
Niccolo verkrampfte sich. » Die Gaukler? «
» Schlimmer. « Ihr Blick glitt erstmals an ihm vorüber auf den Gefangenen in seinem Rücken – und entdeckte dort etwas, das ihr sichtlich missfiel. Ihre schwarzen Brauen zogen sich eng über der Nasenwurzel zusammen.
Zweifelnd drehte Niccolo sich um.
Die hintere Hälfte des Wagens war in der Tat durch ein Gitter abgetrennt. Jemand – etwas – stand dort und blickte sie an.
Etwas ziemlich Massiges, mit kurzen Stummelbeinen, viel zu großen Händen und einem noch größeren Schädel. Die lange Schnauze war spitz, aber das Gesicht ähnelte eher eine Ratte als einem Drachen. Das breite Hinterteil lief zu einem schlaffen Schwanz aus, der wie leblos am Boden lag. Das seltsame Wesen trug keine Kleidung, deshalb war sein breit gestreifter Bauch zu sehen, wie bei einem Krokodil, das auf seinen Hinterbeinen steht. Die dicken Zehen liefen rund und lächerlich plump aus, keineswegs in Krallen. Auch die Finger, die sich fest um die Gitterstäbe geschlossen hatten, wirkten wulstig und ungelenk.
Die Haut des Wesens war rot wie reife Kirschen. Knallrot – von der Schwanzspitze bis hinauf zu dem schlaffen Schuppe n kamm, oben auf dem albernen Schädel.
» Du bist kein Drach e «, stellte das Mädchen fest.
Niccolo dämmerte die Wahrheit. » Du bist ein Mensch in einem Drachen kost üm ! « Und naserümpfend setzte er hinzu: » In einem ziemlich schlechten. «
» Nei n «, gab der Gefangene hastig zurück. » Oder, ja … wie man ’ s nimmt. « Gehetzt rüttelte er an den Gitterstäben. » Bitte, lasst mich hier raus, bevor sie kommen!
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