Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
am Ende der äußeren Wagenreihe auf, fluchte lautstark und kam genau auf Niccolo zu. Er trug einen schweren Knüppel, den er hinter sich durchs Gras schleifte. Niccolo glaubte schon, dass er entdeckt worden war, aber dann blieb der Mann auf Höhe des Tigerwagens stehen, holte mit der Keule aus und schlug sie kraftvoll gegen die Holzwand. Aus dem Inneren drang abermals Fauchen, verstummte dann aber.
Die Stelle, an der Niccolo hockte, lag im Schatten. Der Mann konnte ihn nicht sehen, obgleich ihn kein Buschwerk mehr schützte. Solange kein Licht in seine Richtung fiel, war Niccolo einigermaßen sicher.
Der Mann – offenbar ein Wächter, der zum Schutz des Lagers abgestellt worden war – kletterte auf einen Kutschbock, hakte einen Lampion von der Dachkante und sprang damit zurück ins Gras. Ein Rund aus gelblicher Helligkeit umgab ihn jetzt. Langsam näherte er sich Niccolo, der völlig ungeschützt dasaß und verzweifelt darüber nachdachte, was er jetzt tun sollte.
Noch zehn Schritte, dann würde ihn der Schein des Lampions erfassen.
Wenn er zurück ins Unterholz kletterte, musste der Wächter ihn bemerken. Brechende Zweige und knisterndes Laub waren aus dieser Nähe nicht zu überhören.
Blieb nur eine Möglichkeit. Die Flucht nach vorn.
In den Schatten unterhalb des Drachenwagens.
Geduckt huschte er vorwärts, durch das kniehohe Gras auf die eisenbeschlagenen Wagenräder zu. Das Rascheln des Grases unter seinen Füßen kam ihm laut und verräterisch vor. Sein eigener Herzschlag musste bis zu den Feuern zu hören sein. Aber als er in die Schwärze zwische n d en Rädern tauchte und sich doch noch umschaute, sah er, dass der Mann gemächlich weiterschlenderte, die Keule in der linken Hand, den Lampion hocherhoben in der Rechten. Der Waldrand schien ihn weit mehr zu interessieren als die Wagenreihe, und Niccolo meinte, ihn leise über Raunen und andere Baumgeister schimpfen zu hören.
Er wartete, bis der Mann an ihm vorüber war, dann gestattete er sich ein unterdrücktes Aufatmen.
Jemand berührte ihn an der Schulter.
Mit einem Keuchen wirbelte er herum.
» Wenn sie mich deinetwegen entdecken «, flüsterte eine wei b liche Stimme, » stirbst du als Erster. «
In der Dunkelheit erkannte er nur ihre Silhouette, und selbst die erahnte er mehr, als dass er sie wirklich vor sich sah. Hätte sie nichts gesagt, er hätte sie niemals bemerkt. Selbst jetzt schien ihre Stimme aus den Schatten selbst zu kommen: wortgewordene Finsternis.
» Keinen Laut «, sagte sie.
Er blickte langsam nach unten und sah, dass irgendetwas auf seinen Bauch gerichtet war, kein Schwert, sondern ein … angespitzter Stock?
» Ich weiß, dass du nach Drachen suchst «, sagte sie. » W a rum? «
» Wie zum Teufel bist du hierher gekommen? «, platzte es gedämpft aus ihm heraus. » Ich hab den verdammten Wagen seit Stunden angestarrt. Und hier war niemand. «
Die Spitze bohrte sich schmerzhaft in seine Bauchdecke.
» Warum suchst du die Drachen? «, wiederholte sie ungeduldig.
» Ich will sie erforschen. «
» Das hast du diesen Trotteln im Teehaus erzählt. Ich will die Wahrheit hören. «
» Das ist die Wahr- … Autsch! « Die Spitze tat nun wirklich weh. Wütend griff er danach, aber sie war schneller. Der Stock hieb schmerzhaft auf seine zuschnappenden Finger, und als er die Hand im Reflex zurückzog, war die Spitze sofort wieder am selben schmerzenden Punkt wie zuvor.
» Versuch das nicht nochmal! Ich spieße dich auf wie ein Stück Hammel. «
Plötzlich sah er sie deutlicher. Struppiges wildes Haar. Schm a le Schultern. Ein langer schmaler Hals. Blitzende Mandelaugen.
Im selben Moment wurde ihm klar, warum er sie mit einem Mal sehen konnte – der Lichtschein kehrte zurück!
» Vorsicht! «, presste er zwischen den Zähnen hervor und warf sich zur Seite ins Gras. Und wieder war sie schneller, lag bereits flach am Boden, als er gerade dort ankam. In der Finsternis spürte er ihren Blick in seinem, ihre Augen nur durch eine Handbreit und ein paar Grashalme voneinander getrennt.
Der helle Fleck des Lampionscheins wanderte an ihnen vo r über, gemächlich wie zuvor.
Niccolo hörte ihren Atem nicht, nur seinen eigenen. Viel zu laut. Viel zu verräterisch.
Der Wächter entfernte sich wieder. Niccolo sah seine Beine auf Höhe des Tigerwagens stehen bleiben, schließlich weiterg e hen.
Als er wieder zu dem Mädchen blickte, lag sie nicht mehr neben ihm. In derselben Sekunde schob sie ihre n O berkörper über seinen, lag
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