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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schuld. Aber der Zorn des Himmels ist etwas anderes. «
    » Du glaubst, dass der Himmel uns durch dieses Gewitter seinen Zorn zeigen will? «
    » Was sonst? «
    Feiqings erster Impuls war, ihre Behauptung abzustreiten. Aber dann dachte er an das, was ihm widerfahren war – und auch dagegen war mit Vernunft nicht anzukommen. Zudem hatte der Himmel wahrhaftig allen Grund zur Wut. Wie alle Chinesen verehrte auch Feiqing den Himmel als höchsten aller Götter, nicht als deren Wohnsitz, sondern als obersten Gott persönlich, als Tiandi, den Göttervater. Und Tiandi, der Hi m mel, war dem Angriff des Aethers hilflos ausgeliefert, falls es seiner Attentäterin Mondkind gelang, auch die drei verbliebenen Unsterblichen zu töten. Wenn Li, Tieguai und Guo Lao starben, dann war die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Göttern und Menschen ein für allemal zerschlagen – und dem Aether würde es ein Leichtes sein, beide zu vernichten, denn er umgab sie wie eine Schale das Obst. So lange Kern und Fruch t fleisch aneinanderhafteten, war das Gleichgewicht stabil; doch wenn beides auseinandergerissen wurde, geriet das Gefüge selbst ins Wanken, Fäulnis setzte ein, und zurück blieb am Ende die leere Schale, der Aether allein. Das war sein Plan – und, ja, deshalb war der Himmel zurecht zornig.
    Wisperwinds Gesicht war dem Regen zugewandt, immer wieder angestrahlt vom weißen Schein der Blitze. Ihre Augen blickten ins Leere. » Manchmal beneide ich dich. «
    » Ach ja? « Einen Moment lang überlegte er, ob sie sich über ihn lustig machte. Aber dann sah er, dass sie vollkommen ernst war und so melancholisch, wie er sie noc h n ie erlebt hatte. » Was gibt es an mir schon zu beneiden ? Schau mich an! Ich bin ein Witz! «
    » Es muss alles so viel einfacher machen, wenn man sich an nichts mehr erinnern kann. Daran, wer man selbst einmal war und was man getan hat. «
    » Da gibt es nichts – «, begann er, brach aber ab, als ihm klar wurde, dass er dessen nicht sicher sein konnte. Tatsache war nun einmal, dass er nichts über sich selbst wusste, das länger als drei Jahre zurücklag. Er konnte sich nicht vorstellen, zuvor ein schlechter Mensch gewesen zu sein, gewiss kein Schwertkäm p fer, der zahllose Gegner getötet hatte. Aber sicher sein konnte er nicht. Und da verstand er, was Wisperwind meinte: Er hätte die schlimmsten Schandtaten begangen haben können, und doch konnte er weiterleben, als sei nichts geschehen. Weil ihm die Erinnerung daran fehlte. Weil er sich für gut und edel halten konnte, ohne dass ihm sein Gewissen widersprach.
    Vielleicht also hatte sie Recht. Wären da nur nicht die Zweifel gewesen. Die ewige Suche nach etwas, das immer noch irgen d wo in ihm stecken musste. Die Vergangenheit ließ sich nicht auslöschen, nur übertünchen. Sie war noch da, ganz bestimmt, und alles, was ihm fehlte, war der Schlüssel dazu. Sein früheres Leben war wie ein Wort, das ihm auf der Zunge lag, an das er sich aber nicht erinnern konnte. Fast greifbar und doch immer einen Schritt zu weit entfernt.
    Trotzdem verstand er, was sie meinte. Das verfluchte Kostüm, seine Unbeweglichkeit, sein lächerliches Aussehen – all das mochte lästig, gar quälend sein. Doch im Gegensatz zu Wispe r wind und zu so vielen anderen stand er sich zumindest nicht selbst im Weg.
    » Ich würde viel dafür geben, vergessen zu können «, sagte sie.
    Er wandte den klobigen Kopf und sah sie durchdringend an. » Bist du deshalb hier? Willst du den Wächterdrachen um Vergessen bitten? Um das, was ich schon habe? «
    Sie gab keine Antwort – und riss einen Augenblick später das Schwert aus dem Boden. Zugleich federte sie auf die Beine.
    » Was ist? «, stöhnte Feiqing.
    » Bleib hier! «, befahl Wisperwind. » Beweg dich nicht von der Stelle! «
    » Was hast du vor? « Aber noch während er die Frage stellte, zerriss ein weiterer Blitz die Finsternis, und was er vorhin befürchtet hatte, wurde jetzt Wirklichkeit.
    Auf den ersten Blick hätte man meinen können, die Bäume am Waldrand seien zum Leben erwacht. Doch schon beim nächsten Blitz, der nur wenige Sekunden später die Regenfäden in weißer Glut entflammte, erkannte Feiqing, dass es Raunen waren. Vierarmige Monstrositäten aus Holz. Schwarzbraune Borke n haut über Muskeln aus Wurzelsträngen. Klaffende Mäuler mit Zähnen aus zerbrochenen Ästen und Dornen. Und winzige schwarze Augen, die wie Käfer in den Spalten der Rindeng e sichter saßen.
    Mindestens sechs oder sieben

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