Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
mel, übergoss ihre Schultern mit weißem Feuer. Die Seidenbänder vollführten einen schwebenden Tanz wie das Wirrwarr am Grunde eines Schlangennests; Mondkind wurde gänzlich darin eingewoben. Ihre Stimme hob zu einem melodi ö sen Gesang an, ganz ähnlich jenem, den Niccolo schon einmal gehört hatte, vor Wochen auf einer Lichtung im Waldland von Sichuan.
Tieguai hielt den Fächer jetzt waagerecht, holte damit aus und schleuderte ihn mit aller Kraft zu ihr herüber . Mehrere Seide n bahnen lösten sich aus dem Tumult und versuchten, die Waffe aus der Luft zu greifen. Doch der messerscharfe Stahl schnitt sie alle in Stücke und grub sich tief in den flirrenden Seidenkokon.
Mondkinds Gesang brach ab. Die Seidenbahnen zerfielen, pellten sich auseinander wie vertrocknete Blütenblätter. In ihrer Mitte kam das Mädchen zum Vorschein, unversehrt und überirdisch schön. Schmerz sprach aus ihrem Blick, doch ihr herzförmiges Gesicht war ebenmäßig und scheinbar entspannt. Ihr langes schwarzes Haar, das eben noch im Einklang mit der Seide um ihren Kopf gewirbelt war, senkte sich schwebend herab auf ihre Schultern, floss glatt über Rücken und Brüste.
In ihrer rechten Hand hielt sie den Fächer.
Seidenfäden hatten sich zwischen den Streben verfangen, aber als Mondkind die Waffe schüttelte, fielen sie ab und folgten den zerfetzten Bändern zum Boden. Die unversehrten Bahnen zogen sich unter den wallenden Saum ihres Kleides zurück, in ihre langen Ärmel, sogar in ihren Ausschnitt. Plötzlich schwebte sie ganz ruhig dort oben, kein Gewirbel mehr, kein Chaos aus Seidententakeln. Nur Mondkind in ihrem langen weißen Kleid aus zahllosen Lagen weißen Schleierstoffs.
Niccolo rief noch einmal ihren Namen, aber er hatte das Gefühl, ins Leere zu sprechen. So als befände er sich mit einem Mal unter Wasser und brüllte vergeblich gegen die Fluten an, die über seine Lippen strömten.
Tieguai blickte von seiner leeren Hand hinüber zu dem Fächer in Mondkinds Fingern. Ein Ausdruck von Fassungslosigkeit in Mondkinds Fingern. Ein Ausdruck von Fassungslosigkeit legte sich auf seine Stirn.
Mondkind öffnete den Mund und beendete ihren Gesang mit einem letzten Vers in einer Sprache, die Niccolo nicht verstand. Dann holte sie blitzschnell aus und schleuderte den Fächer zu Tieguai hinüber.
Noch während das wirbelnde Klingending durch die Nachtluft schnitt, sank Mondkind zurück auf den Boden, landete fede r leicht und aufrecht auf einem Polster aus zerfetzter Seide.
Niccolos Mund klappte auf, aber kein Ton drang hervor.
Der Stahlfächer drehte sich im Flug um sich selbst wie ein übergroßer Wurfstern, raste in der Horizontalen auf den Xian zu, als wollte er zu ihm zurückkehren wie ein treues Tier.
Tieguai stieß sich vom Felsen ab. Der Fächer verfehlte ihn um eine Handbreit, zuckte unter ihm hinweg und setzte seine Flugbahn fort, bis er aus Niccolos Blickfeld verschwand.
Der Xian schlug einen Salto und kehrte zum Erdboden zurück. Keine zwanzig Meter von Mondkind entfernt kam er auf, federte leicht in den Knien und verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als seine Füße festen Untergrund berührten.
Mondkind stieß einen hohen, auf- und abschwellenden Laut aus, der auf beunruhigende Weise ein Bruchstück ihres vorher i gen Gesangs aufnahm.
Es war ein Ruf.
Das Schwert in Niccolos Hand zuckte wieder, und diesmal konnte er nicht anders, als es anzuheben und damit in Mon d kinds Richtung zu weisen.
» Das hier endet jetz t «, sagte er leise. » Ich will nicht mit dir kämpfen, aber ich werde es tun, wenn du mir keine Wahl lässt. «
Der Ton aus ihrem Mund brach ab. Sie schenkte Niccolo ein trauriges, wissendes Lächeln.
Im nächsten Augenblick zeigte ihr Zauberlied seine Wirkung. Während Tieguai sich in Bewegung setzte, schoss der fliegende Fächer aus der Ferne heran, kehrte zurück aus der Finsternis, schnell und funkelnd wie eine Sternschnuppe.
» Nein! «, schrie Niccolo.
» Es tut mir lei d «, sagte Mondkind und senkte den Blick.
Der Fächer schnitt durch Tieguais Hals und enthauptete ihn.
JAGD IM GEBIRGE
N iccolo wurde von dem Schwert nach vorn gerissen, noch bevor er gänzlich verstand, was gerade geschehen war. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand einen furchtbaren Schlag versetzt, vol l kommen unerwartet. Eine betäubende Mischung aus Schock und Schmerz erfüllte ihn, und eine ganze Weile lang brachte er keinen Laut heraus, nicht einmal einen Aufschrei.
Er stolperte auf Tieguai zu und fiel
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