Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Luftschlitten des Herzogs die Wolkeninsel verlassen hatte. Immerhin würde der Kranich nicht einfach vom Himmel fallen.
Sie jagten die Bergflanke hinab in eine enge Schlucht, die sich in scharfen Kurven nach Norden wand. Am Grund floss ein schmales Rinnsal um mächtige Gesteinsbrocken. Sie waren noch immer weit oberhalb der Baumgrenze, in der Schlucht wuchs nichts als Gestrüpp und braunes Gebirgsgras. Kahle Felsen ragten rechts und links auf, hier und da sprühte Wasser aus Öffnungen im Gestein und verschwand in der Tiefe.
Mondkind blieb bis zur ersten Kehre der Schlucht sichtbar, dann war sie fort. Niccolo trieb den Kranich zur Ei le. Er durfte sie jetzt nicht verlieren, sonst würde er sie nie wiederfinden.
Das Schwert lag ganz ruhig in seiner Hand. Vielleicht übe r deckte auch nur sein hämmernder Herzschlag das Pulsieren, das von der Klinge ausging. Oder sie gab sich vorerst zufrieden mit seinem Versuch, Mondkind einzuholen.
Ich kann sie nicht aufhalten, dachte er wieder und wieder. Nicht mit einer Waffe.
Er hatte geglaubt, mit ihr reden zu können. Sie überzeugen zu können, sich vom Aether abzuwenden, seine Befehle zu ignorieren und Tieguai am Leben zu lassen. Alle hatten ihn gewarnt, aber er hatte ihre Warnungen in den Wind geschlagen. Er war so sicher gewesen, dass er genug Einfluss auf sie hatte, um sie auf seine Seite zu ziehen.
» Niccolo! «, hallte es mit einem Mal durch die Schlucht . » Er war kein Mensch mehr. Die Xian haben länger gelebt als irgendjemand sonst. Vielleicht ist es nur richtig, dass auch sie irgendwann einmal sterben. «
Er hielt im Flug nach ihr Ausschau, fand sie aber nirgends. Sein Kranich folgte weiter dem Verlauf der gewundenen Klamm, aber hinter jeder neuen Biegung war nur blanker Fels. Nirgends eine Spur von Mondkind. Und doch hörte er sie ganz deutlich, selbst über den tosenden Gegenwind.
» Niccolo, hör mir zu! « Die Worte schienen von allen Seiten zu kommen, irgendein akustisches Verwirrspiel dieser Felsene n ge. » Ich war die Schülerin einer Xian, ich weiß, was sie sind und wie sie den Tod betrogen haben . Sie waren längst keine Me n schen mehr! «
» Und deshalb musstest du sie töten? «, brüllte er. » Deshalb darfst du entscheiden, dass ihre Zeit gekommen ist? … Du hast sie umgebracht, weil der Aether es dir befohlen hat, nicht weil es irgendeine Rolle spielt, was die Xian sind oder waren! «
Sie gab keine Antwort. Angestrengt suchte er die Schlucht nach ihr ab, aber er entdeckte sie erst, als er nach oben blickte und das Weiß ihrer Gewänder über der rechten Felskante aufblitzen sah. Sie flog parallel zu ihm, wenn auch um einiges höher. Warum floh sie nicht?
Weil sie dich nicht fürchtet, flüsterte seine innere Stimme. Nicht vorhin auf dem Plateau und auch jetzt nicht . Sie hat keine Angst vor dir, weil sie weiß, dass du es nicht fertigbringen würdest, sie zu töten – selbst wenn du eine Chance hättest, sie zu besiegen. Nicht einmal dann, wenn das Schwert dich beein - f lusst. Du bist stärker als dieses Stück Stahl, und das nutzt sie aus! Du wirst dich immer gegen den Willen dieser Waffe auflehnen!
Er riss an den Zügeln des Kranichs und ließ ihn abrupt nach oben steigen. Das Tier gehorchte und hätte ihn dabei fast nach hinten abgeworfen. Niccolo klammerte sich fest und verfluchte das Schwert gleich noch einmal, weil er die Scheide während des Fluges nicht auf dem Rücken befestigen konnte und die Waffe die ganze Zeit über in der Hand halten musste.
Der Kranich schoss nach oben, nahezu senkrecht – jedenfalls fühlte es sich so an –, und als er die Oberkante der Schlucht erreichte, war Mondkind nirgends mehr zu sehen . Niccolo blickte sich verzweifelt nach ihr um. Vergebens.
Dann aber legte sich der Kranich ganz von selbst in eine Kurve nach links, raste über die Kluft hinweg, rüber zur anderen Seite. Die Felsen bildeten dort ein zerklüftetes Plateau, ehe sie zu einem weiteren steilen Berghang anstiegen.
» Hast du sie gesehen? «, rief Niccolo dem Kranich zu und wusste sehr wohl, dass er keine Antwort bekommen würde. Aber er spürte eine seltsame Verbundenheit zu dem Vogel, fast so etwas wie Freundschaft, und wenn auch nur, weil er das Einzige war, das ihm von Tieguai geblieben war.
Plötzlich fiel ihm die Schriftrolle ein. Sie steckte noch immer sicher unter seinem Wams im Gürtel. Guo Lao. Eine Karawa n serei in der Wüste Taklamakan. Tieguai hatte tatsächlich gewusst, dass er sterben würde. Er hatte Niccolo mit
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