Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
ihr hinterher.
Sie zögerte, ging weiter. Ergriff die Zügel des Kranichs.
» Ich hab gesagt, du sollst stehen bleiben! « Er riss Silberdorn aus dem Boden. Ein triumphierender Hitzestoß raste aus dem Schwert seinen Arm hinauf.
» Ich kämpfe nicht mir di r «, sagte sie, als sie sich auf den Rücken des Kranichs zog. Ja, sie war tatsächlich noch immer geschwächt, viel schlimmer, als er angenommen hatte. Auf dem Vogel sackte sie kurz vornüber, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle.
Mit dem Schwert in der Hand ging er auf sie zu.
» Ich kann dich nicht gehen lasse n «, sagte er verbissen.
» Dir bleibt gar nichts anderes übrig. «
» Was wirst du sonst tun? Mich auch umbringen? «
» Lass es nicht darauf ankommen. «
» Das kannst du nicht. Und das weißt du. «
Sie zog den Kranich herum, sodass sie und der Vogel Niccolo entgegenblickten. Obwohl er sie aufhalten wollte, aufhalten musste, war ihm klar, dass er sie viel zu sehr liebte, um ihr ein Leid zuzufügen.
Das Schwert war offenbar anderer Meinung.
Dieselbe Erkenntnis blitzte mit einem Mal in Mondkinds Augen. Sie blickte von Niccolo hinab auf die Klinge, und jetzt schien sie zu spüren, was vorging.
» O nei n «, flüsterte sie, und es klang zugleich verblüfft und unheilschwanger. Aber sie zögerte noch, den Kranich abheben zu lassen, fast so, als käme da mit einem Mal eine neue Mö g lichkeit ins Spiel, die sie erst abwägen musste.
» Du kannst mich töte n «, raunte sie überrascht.
» Ich – « Er verstummte, wusste nichts mehr zu sagen . Noch wenige Schritte, dann würde er bei ihr sein. Er schluckte Tränen hinunter und hatte das Gefühl, dass sich ihr sein Herz in der Brust entgegenwölbte.
Aber auch die Klinge zog in ihre Richtung. Die Klinge, die in diesem Augenblick etwas ganz anderes wollte als er.
» Das Schwert liest deine geheimsten Gedanken, Niccolo. Und ganz tief in dir hat es den Wunsch gefunden, das alles hier zu beenden und Tieguai zu rächen. «
Er blieb stehen und sah auf Silberdorn hinab. Nur ein Schwert, redete er sich ein. Das ist nur ein Stück Stahl, nichts sonst.
Stahl, der für die Götter geschmiedet worden war.
Mondkind stieß einen summenden Ton aus. Etwas reg te sich im Gras am Ufer, und plötzlich schoss etwas Silbernes auf sie zu. Sie fing Tieguais Fächer einhändig auf, faltete ihn mit einer eleganten Bewegung zusammen – und gab dem Kranich den Befehl aufzusteigen.
» Warte! «, brüllte Niccolo.
» Ich liebe dic h «, sagte sie. Dann machte der Kranich einen Satz und raste mit gespreizten Schwingen über Niccolo hinweg. Der Luftzug warf ihn beinahe zu Boden. Er taumelte und verlor das Schwert aus der Hand. Die Klinge heulte vor Empörung auf, als sie ins Gras fiel.
Niccolo fuhr herum und starrte Mondkind nach. Auch sie sah über die Schulter zurück. Der Vogel erreichte den Felswall rund um das Gipfelplateau und sackte dahinter abwärts, schoss im Sturzflug in die Tiefe und war fort.
Niccolo stieß einen gequälten Schrei aus, ballte die Fäuste und lief auf Tieguais Kranich zu. Der Riesenvogel erhob sich mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er nur auf seinen neuen Meister gewartet.
Wie in Trance wirbelte Niccolo noch einmal herum, sprang zurück und sammelte Schwert und Scheide ein . Taumelnd stieg er auf den Rücken des Kranichs und befahl ihm, Mondkind zu folgen.
* * *
Er hatte keine Angst vor der Höhe, natürlich nicht – er war auf einer Wolke geboren. Unter ihm fühlte sich der Federleib des Vogels vertrauter an, als er erwartet hatte . Er hatte gerade einmal drei Tage lang geübt, neben all de n a nderen Dingen, die er an Tieguais Seite gelernt hatte. Im Nachhinein kam es ihm vor, als wären Wochen vergangen, seit der Xian ihn bei sich aufgenommen hatte.
Gerade einmal drei Tage. Und er fragte sich, ob Mondkind Recht gehabt hatte. Hatte Tieguai gewusst, dass sein Ende unausweichlich war?
Niccolo hielt die Zügel des Kranichs in der Linken . Rechts trug er das Schwert. Der Xian hatte ihn gelehrt, dass er sich allein mit den Beinen festhalten musste. Die Zügel waren nur dazu da, dem Vogel zu zeigen, wohin er fliegen sollte; Halt aber gaben sie kaum.
Das bekam er zum ersten Mal zu spüren, als der Kranich jenseits des Walls in einen Sturzflug überging. Mit einem wilden Schrei rutschte Niccolo auf dem Federrücken nach vorn und wäre beinahe auf dem dünnen langen Hals gelandet. Er hatte einen ganz ähnlichen Flug schon einmal erlebt, als er auf einem
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