Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
neben ihm auf die Knie. Am Rande seines Blickfelds zog etwas Weißes vorüber wie ein Schwan im Nebel. Die Klinge wollte, dass er dem Schemen folgte, aber Niccolo rammte sie mit aller Willensanstrengung ins Erdreich, wo sie vibrierend stecken blieb. Ein leiser, beinahe empörter Ton ging davon aus, wie von einer hauchzart ang e schlagenen Harfensaite.
Niccolo brachte es nicht über sich, die Schultern des Unster b lichen anzusehen. Vielmehr tastete er nach Tieguais Hand, senkte den Blick und weinte. Er tat das für sich selbst, für den toten Xian und – vielleicht nur halb bewusst – auch für Mon d kind. Einen Moment lang gelang es ihm, dem Bann zu entkommen, der sie aneinanderkettete; er wünschte sich nichts mehr, als dass sie fort wäre, wenn er wieder aufschaute.
Aber als er die Augen hob, war sie noch da. Natürlich.
Sie stand nicht weit von ihm, in der Nähe der beiden Kraniche. Sie schien gegen den Drang anzukämpfen, zu Niccolo herübe r zukommen, so als wollte etwas in ihr ihn trösten, während ein anderer Teil sie zurückhielt, vielleicht um diese ganze Katastr o phe nicht auf einen weiteren, noch grausameren Höhepunkt zu treiben.
Tränenströme liefen über ihr Gesicht, glitzerten in ihren Mundwinkeln und an ihrem Kinn.
» Ich habe ihm versprochen, dass ich dich davon abbringen kan n «, brachte Niccolo mühsam hervor, noch immer auf Knien, zu schwach um aufzustehen und sich auf sie zu werfen oder irgendeine andere Dummheit zu begehen.
» Und? «, fragte sie leise. » Hat er dir geglaubt? «
» Er hat – « Niccolo schüttelte den Kopf. » Nein. «
» Er wusste, dass es so kommen würde. «
Endlich stieg ein verzweifelter Schrei in ihm auf, warf seinen Kopf zurück in den Nacken und kam laut und gequält über seine Lippen. Selbst als er abbrach, hallte der Schrei noch lange im Gebirge nach und wehte um die Gipfel.
Mondkinds Gewänder bewegten sich nicht mehr. Der Saum ihres Kleides lag reglos am Boden, die Seidenschleier wirkten mit einem Mal grau und schmutzig. Die Bänder waren zurück unter ihr Gewand gekrochen. Durch Tränen sah Niccolo, dass auch die Seidenfetzen am Boden sich aschgrau kräuselten wie verbranntes Papier. Ein Windstoß wirbelte sie davon, hinaus über das Wasser des Bergsees.
Tieguais Kranich legte sich ab und pickte zaghaft mit der Schnabelspitze im Gras.
Niccolo ließ wieder den Kopf hängen, unfähig zu entscheiden, was er denken, was er tun sollte. Seine rechte Hand wanderte an dem Schwert im Boden hinauf, klammerte sich wie ein ausg e laugter Kletterer an der Kreuzstange fest, kroch höher und umfasste den Griff.
» Bitt e «, flüsterte Mondkind, » v ersuch das nicht. «
Niccolo hob das Gesicht und starrte sie an. Seine Unterlippe bebte, seine Wangen waren nass und eiskalt. Seine Linke umfasste noch immer die Hand des Toten, und ihm war, als wiche schon alle Wärme daraus. Sanft legte er sie im Gras ab.
Mondkind nickte langsam. » Ich muss jetzt gehen. «
» Was? « Nun weinte und lachte er zugleich, verbittert, erschü t tert und so unfassbar wütend auf die ganze Welt . » Du kannst nicht einfach verschwinden, als wäre nichts geschehen! «
» Meine Aufgabe ist noch nicht beendet. «
» Deine Aufgabe? «
» Hör auf, Niccolo. Quäl dich nicht weiter damit. «
» Verdammt nochmal, was redest du denn da? « Er zog sich an dem Schwert in die Höhe, hielt sich daran fest, als müsste er sonst wieder zurück auf den Boden sinken . Noch blieb die Klinge im Boden stecken, aber er spürte die Waffe in seiner Hand vibrieren wie von einem wummernden Pulsschlag tief im Stahl. » Tieguai war mein Freund! Und du hast ihn umgebracht! «
Sie hob den Blick hinauf zum Himmel. Ihre Wangen bebten, und die Tränen flossen noch immer ungehemmt über ihre vollkommenen Züge.
» Leb wohl, Niccolo! «, sagte sie und drehte sich langsam zu ihrem Kranich um.
Sein Blick streifte die Wunde in ihrer Seite. Blut hatte die Seide dort rot gefärbt, aber ihm war, als wäre es weniger geworden, so als übertünche das Weiß die Farbe des Blutes wie eine Schneedecke ein Schlachtfeld. War nicht auch ihr ganzes Kleid schon wieder heller geworden, so als erneuerte es sich von innen heraus?
Der Kampf hatte sie kaum genug Kraft gekostet, um sie länger als ein paar Minuten aufzuhalten. Aber vielleicht war das nur äußerlich, denn er erinnerte sich, dass sie selbst auf den Lav a türmen noch geschwächt gewesen war vom ersten Kampf gegen Guo Lao im Wald.
» Bleib stehen! «, rief er
Weitere Kostenlose Bücher