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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihm die Parallele bewusst wurde. Der Gedanke ließ seinen Herzschlag stolpern.
    » Jene, um deretwillen du hier bist, wird komme n «, sagte Tieguai. » Schon bald. «
    Erneut spürte Niccolo, wie der Gedanke an Mondkind alle anderen Ängste, Vorbehalte und Selbstvorwürfe davonspülte. Großer Leonardo, dachte er und hasste sich dafür, ich will das nicht!
    » Dein Weg ist dein Weg ist dein We g «, murmelte der Xian. Das klang wie eine leere Litanei, aber etwas sagte Niccolo, dass er es ernst meinte.
    Überstürzt sprang er auf und stürmte ins Freie. Tieguai folgte ihm nicht. Die kühle Gebirgsluft schlug Niccolo entgegen, aber nicht einmal sie vermochte das verzweifelte Feuer in seinem Inneren zu löschen.
    Auf dem Felsen hinter der Hütte krächzte der Kranich in seinem Nest.
    » Ich sollte auf dir zum Drachenfriedhof fliege n «, flüsterte Niccolo und dachte schon darüber nach, wie er dort hinaufkle t tern und das Tier dazu bringen konnte, ihm zu gehorchen.
    Tieguai schlug die Felle vor dem Eingang beiseite, trat aber nicht hinaus in die Nacht. Der Feuerschein im Inneren umrah m te seine dürre Gestalt. Es sah aus, als stünde sein langes Haar in Flammen.
    Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er Niccolo etwas entgegen.
    Silberdorn.
    Schwert und Scheide fielen vor Niccolos Füßen ins Gras.
    Er zögerte, sich danach zu bücken. Er hatte keine Ahnung mehr, was er eigentlich wollte. Die Einflüsterungen des Götte r schwertes waren jedenfalls das Letzte, wonach ihm zu Mute war.
    » Du solltest das an dich nehme n «, riet ihm Tieguai.
    Wieder kreischte der Kranich, jetzt sehr viel aufgeregter. Er richtete sich im Nest auf und öffnete seine Schwingen.
    Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte Niccolo, die Drohgebärde des Riesenvogels gälte ihm.
    Dann verstand er.
    Als er herumwirbelte, schoss etwas über den schwarzen Ber g see auf sie zu. Ein Kranich, so groß wie der auf den Felsen. Und darauf eine Gestalt, gehüllt in weiße Seidengewänder, die ungeachtet des Gegenwinds in alle Richtungen wogten wie Arme einer Unterwasserpflanze.
    » Das Schwer t «, sagte Tieguai sehr ruhig.
    Niccolo zerrte Silberdorn aus der Scheide und stellte sich Mondkind entgegen.
     

 
     
     
    SEIDENLANZEN
     
    M ondkind raste über den Bergsee heran, flackernd wie eine Flamme aus weißem Feuer. Ihr Kranich flog mehrere Meter über dem Wasser, aber der Sog seiner Geschwindigkeit schnitt eine mannstiefe Furche durch die Oberfläche. Tropfenfontänen sprühten glitzernd im silbrigen Mondlicht.
    Sie war in schneeweiße Seidengewänder gehüllt wie bei Niccolos ersten Begegnungen mit ihr. Das Kleid hatte sie in der Mitte gerafft, um auf dem Vogelrücken sitzen zu können, und trotzdem bedeckte der Saum ihre langen Beine, verbarg ihre Füße und wehte unterm Bauch des Kranichs wie eine Nebelspur hinter ihr her. Sie ritt freihändig und vollführte mit den Armen Abfolgen komplizierter Gesten; ihre flatternden Ärmel zogen Muster durch die Dunkelheit, verschmolzen zu einem Wirbel aus Seide . Noch mehr weiße Bänder wehten überall um sie herum, tasteten wie Tentakel in diese und jene Richtung, bildeten sterngleiche Formationen um Reiterin und Vogel, krallten sich wieder nach innen, um sich dann abermals wie eine Orchideenblüte am Himmel zu öffnen.
    Niccolo blickte ihr entgegen, den linken Fuß einen halben Schritt nach vorn gesetzt, das Schwert kampfbereit in beiden Händen. Er hatte diese Stellung angenommen , weil er es so gelernt hatte und die Klinge Silberdorn es ihm eingab – ein Instinkt, der aus dem magischen Götterstahl in seine Hände floss und einen Herzschlag später sein Gehirn erreichte. Er hatte das Gefühl, genau zu wissen, was er tat, so als hätte er sein Leben lang ein Schwert wie dieses in den Händen gehalten – doch in Wahrheit wusste er überhaupt nichts.
    Am wenigsten, warum er Mondkind wie ein Krieger entgege n trat, obwohl er doch nichts anderes wollte, als sie in die Arme zu nehmen.
    Sie hatte den See jetzt zur Hälfte überquert. In wenigen A u genblicken würde sie das Ufer erreichen, dann die Hütte und den Unsterblichen.
    Niccolo blickte sich zu Tieguai um, aber der Xian war ve r schwunden. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte er ihn im Inneren der Behausung hantieren . Dann kam Tieguai auch schon wieder mit wehendem Haar ins Freie gerannt, in einer Hand eine Schriftrolle . Niccolo hatte eher mit einem Schwert gerechnet, irgendeiner Waffe.
    Tieguai lief hinüber und stopfte

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