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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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einer letzten Aufgabe betraut.
    Darum also hatte er ihm beigebracht, auf dem Kranich zu reiten. Und deshalb gehorchte ihm der Vogel auch jetzt noch, selbst nach dem Tod des Xian.
    Vor dem gigantischen Bergmassiv leuchtete mit einem Mal ein heller Punkt, tauchte aus dem Irrgarten der Felsen auf und jagte in gerader Linie auf den schrundigen Hang zu. Zahllose Scha t ten bedeckten den Berg, finstere Flecken unter scharfkantigen Überhängen und lichtlose Spalten, in die kaum jemals Helligkeit fiel. Erst jetzt wurde Niccolo bewusst, dass die Sonne aufgega n gen war. Sie stand noch jenseits der vorderen Gebirgsgipfel im Osten, aber sie erhellte einen Teil des Himmels mit einem blauvioletten Schimmer. Ehe sie jedoch die Schattenlöcher i n d er Bergflanke erreichen würde, mochten noch Stunden verg e hen.
    Mondkinds Gewänder wehten als weiße Schleppe hinter ihr und dem Kranich her. Manche ihrer Schleier und Überwürfe hoben und senkten sich im Sog der Vogelschwingen; aus der Ferne sah es aus, als wären Mondkind eigene Flügel gewachsen, die in den Rhythmus des Kranichs mit einfielen.
    » Wir holen sie ei n «, rief Niccolo seinem Vogel zu.
    Und dann?, flüsterte es in ihm.
    Der Kranich schoss gut fünfzig Meter über den Felsen dahin. Mondkind war weit vor ihnen. Aber Niccolos Vogel holte tatsächlich auf. Er war ausgeruht, ganz im Gegensatz zu seinem Artgenossen dort vorn, der seine Reiterin bereits die weite Strecke bis ins Gebirge getragen hatte.
    Sie raste noch immer genau auf die Bergflanke zu, sah über die Schulter und zerrte plötzlich an den Zügeln. Ihr Kranich legte sich in eine Kurve nach rechts, flog dann nach unten. Er tauchte wieder in das Felsenlabyrinth am Fuß des Berges ein. Niccolo musste seinem Vogel gar nicht erst befehlen, wohin er zu fliegen hatte – der Kranich folgte der Spur auch ohne sein Kommando.
    Bald darauf fegten sie durch enge Spalten, viel schmaler als die Schlucht vorhin, und die meisten schienen bodenlos. Kein Lichtstrahl fiel auf ihren Grund; Niccolo kam es vor, als schwebte er über einem kalten, bedrohlichen Nichts. Irgen d wann einmal war hier das Gebirge aufgebrochen wie getrockneter Schlamm. Die Spalten liefen gezackt wie ein Netz aus Blitzen. Immer wieder verstellten scharfe Kanten den Weg und zwangen den Kranich zu waghalsigen Manövern.
    Auf einer langen Geraden sah Niccolo Mondkind vor sich leuchten, ein Stern aus wirbelnder Seide, der einsam in der Dunkelheit der Gebirgsabgründe strahlte. Sie rief jetzt nicht mehr nach ihm, versuchte nichts mehr zu erklären. Zum ersten Mal hatte er tatsächlich den Eindruck, dass sie ernsthaft vor ihm floh, und er fragte sich, weshalb. Mit ihrer Mondmagie, den lebenden Seidenbändern und ihrer Lehrzeit bei einer Xian war sie ihm hundertfach überlegen. Nicht einmal das Götterschwert machte ihn zu einem so geübten Kämpfer, dass er gegen sie hätte bestehen können.
    Aber beide wussten, dass sie nicht kämpfen würden . Niemals.
    Niccolo brüllte erschrocken auf, als der Kranich wieder au f stieg. Mondkinds Vogel hatte es ihm vorgemacht, ohne dass Niccolo es bemerkt hatte. Und so rasten sie bald wieder im Freien hintereinander her, während der Gegenwind Niccolos Kleidung aufblies und die letzten Tränenspuren auf seinen Wangen trocknete.
    Keine zweihundert Meter war er jetzt hinter ihr. Er versuchte, nach ihr zu rufen, doch sie konnte ihn im Gebrause des wilden Fluges nicht hören und wollte das wohl auch gar nicht.
    Sie umrundeten den Berg zur Hälfte, und schon sah Niccolo vor sich weitere Schluchten und fürchtete, dass sie einmal mehr versuchen würde, ihn in den engen Felsspalten abzuhängen. Stattdessen aber bog sie unverhofft nach links und raste auf eine der tiefschwarzen Schattenflächen in einem vorgelagerten Granitbuckel des Berges zu. Die Finsternis verschluckte sie.
    » Wo ist sie hin? « Niccolo sah auf den Hinterkopf seines Kr a nichs, als könnte der ihm eine Antwort geben. Irritiert stellte er fest, dass der Vogel ebenfalls auf den steinernen Koloss zuhielt, ohne im letzten Moment doch noch abzudrehen, wie Niccolo es erwartet hatte.
    » Nicht da entlang! « Sein Ruf wurde zu einem Aufschrei, als die Dunkelheit sie verschluckte. Es gab keinen Aufprall, kein haarscharfes Manöver.
    Vor ihnen wurde die Schwärze zum Maul eines Felstunnels, zwanzig Meter breit und ebenso hoch, kantig zerklüftet an den Rändern. Am Ende leuchtete Tageslicht, vor dem Mondkind und ihr Kranich als Silhouette auf und nieder tanzten wie eine

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