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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Stadt vor ihr haben in der Dämmerung ihr letztes Rot verloren. Nur der Himmel darüber erinnert noch mit einem lichten Streifchen an den vergangenen Tag.
    Seit mindestens einer Stunde schon ist niemand mehr auf den Wehrgang gekommen, und auch in der Gasse unter ihr ist nichts mehr los. Den ganzen Tag über wimmelte die Stadt von Menschen: geführte Touristengruppen, Ausflügler und Radwanderer, Büroleute in ihrer Mittagspause, Einkaufsbummler. Jetzt sind die Autos und Reisebusse von den Parkplätzen vor der Stadtmauer verschwunden. In den Häusern brennt Licht, und wo ein Fenster offen ist, hört man Stimmen oder einen Fernseher.
    Auf ihrem Weg zum Wehrgang ist Veronika an überquellenden Restaurants vorbeigekommen. Die Leute saßen im Freien vor den Lokalen, Windlichter wurden angezündet und Speisekarten ausgeteilt. In den engen Gassen strömten die Gerüche aus allen Küchen zusammen zu einem einzigen, verlockenden Duft nach Gebratenem.
    Veronika hat sich mittags eine Pizzaschnitte gekauft und danach eine zweite, weil sie noch immer hungrig war. Wasser  gab es kostenlos am Brunnen, und in einer Bäckerei konnte sie sich noch billiger verpflegen als am Pizzastand, wie sie nachmittags gemerkt hat, als sie schon wieder hungrig war.
    Sie hat kaum Geld bei sich, weil Mattis alle Rechnungen bezahlen wollte, um dann hinterher die Ausgaben mit ihr zu teilen. Das Teuerste, das sie sich heute gekauft hat, war eine bunte Fleecedecke, leicht, warm und weich, und die gab es im Sonderangebot vor einem Laden, der auch Schlafsäcke hatte, die sie sich nicht leisten konnte.
    Sie wird von dieser Stadt nicht loskommen, und sie weiß auch, warum: Falls Mattis es sich anders überlegt, falls es ihm leidtut, falls er in Italien merkt, dass er gar nicht ohne sie sein kann, falls das Wunder geschieht und er wirklich seine letzten Tage vor Amerika mit ihr verbringen will, wodurch sich natürlich alles ändern würde, wird er sie hier finden, sonst nirgends.
    Es zieht in ihrer Brust, und Veronika muss tief Luft holen: Hier wird er sie finden, denn hier hat er sie abgesetzt, auf ihren eigenen Wunsch hin. Die kleine Stadt ist überschaubar, und wenn er sich auch nur ein bisschen Mühe gibt... Er darf nicht annehmen, dass sie nach Hause zurückgekehrt ist, denn wenn man ihr mit Seidenhaar kommt, macht sie sich Haare wie Stroh, und wenn man ihr davonfährt, kriecht sie nicht brav zu den Eltern, sondern rennt auf einen Turm, genau wie sie gesagt hat, das muss Mattis wissen, er kennt sie lange genug.
    Oder verwechselt sie da etwas? Ist es vielleicht nur er, der seinen Weg kompromisslos geht? Der die geplante Tour fährt, der nach Italien prescht, gerade weil sie das nicht mehr wollte? Ein starkes Stück übrigens; denn Mattis muss wissen, dass ihre Eltern ihm voll vertrauen, dass sie sicher sind, ihre Tochter ist mit Mattis zusammen und dass sie sich keine Sorgen machen werden. Sie warten höchstens auf eine Ansichtskarte aus Italien, wissen aber auch, dass die Post sowieso erst nach dem Urlaub eintrifft.
    Veronika richtet sich auf. Der Turm ist zum Greifen nah, aber auch unerreichbar fern, denn er hat sie ausgeschlossen. Er ragt über die Dächer hinaus in den Nachthimmel und sein Steingrau ist dunkel verschattet. Da hat sie zwei Tage und drei Nächte hinter den dicken Mauern zugebracht und nun zeigt sich der Turm so hochmütig, kalt und abweisend. Er hat sie ausgespuckt. Er hat sie angezogen mit seiner Höhe und Fremdheit und der Chance, die er bot. Als sie die Chance nicht nützte, trieb er sie durch seinen Helfer, den Amerikaner, die Treppen hinab und stieß sie hinaus.
    Sie hätte fliegen können …
    Der schmale, umlaufende Kranz mit seinem steinernen Rankenwerk dort oben bietet sich noch immer stumm an. Jetzt bewegt sich etwas hinter der Balustrade, ein Umriss, ein weißes Hemd, und dann hört sie zum dritten Mal den Ruf des Türmers. In alle vier Himmelsrichtungen schreit der Amerikaner sein mittelalterliches Signal, und es ist sehr seltsam, auf dem Wehrgang zu stehen und ihn von hier unten zu hören.
    Der Ruf ist verklungen und der Amerikaner geht wieder für eine halbe Stunde in seine Stube hinab. Veronika kennt seinen Schritt, er käme jetzt an ihr vorüber, wenn sie in ihrer Ecke auf dem Vorplatz läge. Läge? Wieso denkt sie so geschraubt? Kriegt sie eine Macke, weil sie schon drei Tage mit keinen jungen Leuten mehr geredet hat? Die Einzigen, an die sie sich auf Anhieb erinnern kann, waren der Boy vom Pizzastand, ein paar Kinder,

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