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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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während er Tee kocht, und hält die Tür des Geschirrschranks eine Weile in der Hand - sie studiert die Strichliste, die dort hängt. Der Türmer sagt nichts. Er setzt sich an den Tisch und gießt den Tee ein.
    Veronika nimmt ihre Tasse in beide Hände. Sie macht den Mund auf, sie ist seit heute überaus gesprächig, die vierundzwanzig Stunden draußen müssen etwas in Gang gesetzt haben.
    »Was sind das für Striche auf der Innenseite der Schranktür?«
    Der Türmer, der bereits über eine Antwort nachdenkt, mustert sie stumm.
    »Wie oft Ihnen der Zucker ausgegangen ist, vielleicht?« Das erste schiefe Lächeln.
    Er erwidert es nicht. »Die Striche stehen für Leute, die heraufkommen«, sagt er.
    »Täglich?«, zweifelt Veronika.
    »Aber nein.«
    »Dann... stündlich?«
    »Auch nicht«, sagt er.
    Veronika runzelt die Stirn. »Dann sind es vielleicht... besondere Leute?«
    Der Türmer widmet sich seinem Brötchen, er zupft das Innere heraus und zerpflückt es.
    »Also, besondere Leute«, sagt sie und nickt.
    Er hebt den Kopf. »Was ist auf einmal los mit dir? Bisher hast du den Mund nicht aufgebracht!«
    »Ich dachte ja nur...«
    Er unterbricht sie mit harscher Stimme. »Sie wollen die Stufen nur einmal gehen.«
    »Nur einmal?«
    »Hinauf«, sagt der Türmer. »Sie denken an den freien Fall.«
    »Die alle?«, flüstert Veronika hinter ihrer Tasse.
    »Ich glaube schon.«
    »Aber... sie tun’s nicht?«
    »Hast du’s getan?«
    Veronika stellt die Tasse vorsichtig ab.
    »Noch nicht«, sagt sie.
     

14
    Der Junge hat sich in einer einzigen blitzschnellen Bewegung aus dem Zug gelöst. Ein überraschter Schrei, ein Befehl, bellende Rufe. Er lässt sein Bündel fallen und gewinnt eine Gasse, eine Toreinfahrt, einen Hinterhof, eine Kellerluke mit losem Laden, vor dem ein Sandsack liegt. Den zieht er von innen so gut heran, wie es nur geht, dann springt er hinunter und rollt über Kartoffeln.
    Es riecht nicht mehr erdig wie im Herbst, als er schon einmal weggelaufen war, als aber keine Schreie hinter ihm gellten und keine Stiefel über den Hof knallten, es riecht modrig, und die Kartoffeln sind faltig, wie immer im Frühjahr, wenn die Schale nicht mehr schmeckt, man sie aber trotzdem isst. Der Junge findet mit Augen, die die Dunkelheit kennen, eine Tür, einen Riegel, feuchtkalte Ziegelstufen - und fährt zurück, denn oben, an der Falltür, ist schon jemand. Oder täuscht er sich?
    Der Kohlenkeller geht nach einer anderen Seite, er ist so gut wie leer. Auf einer Kiste reicht der Junge zur Fensterluke hinauf. Er schiebt mit dem Laden den Sandsack mit Mühe so weit weg, dass ein Spalt entsteht, durch den er sich hinauswinden kann. Er ist jetzt in einer neuen Gasse. Das Gebrüll kommt näher. Er huscht um eine Ecke. Um eine weitere. Eine Frau weicht in ihren Hauseingang zurück, die Hand vor dem Mund. Die Gassen sind noch leer so früh am Morgen, vielleicht aber auch wegen des Gebrülls.
    Nur aus einem Fenster schreit einer: »Was ist denn los?«
    In einer Quergasse schneidet man dem Jungen den Weg ab. Er dreht sich schneller um, als sie zielen können, hinter ihm peitscht ein Schuss und trifft die Hauswand, doch er ist schon um die Ecke. Er kommt dort heraus, wo er sicher nicht hingewollt hat: am Marktplatz, rennt auf der Turmseite um die Kirche, erschrickt vor der Weite des Platzes und fährt in den Schutz des dunklen Vordachs zurück. Die Turmtür - er wirft sich dagegen und hängt sich an die Klinke - gibt nach, sie ist offen. Aber nur für den Moment, den er braucht, um sich hineinzuquetschen und sie zuzudrücken. Er zerrt den Holzkeil, der ihn schon einmal gerettet hat, aus der Manteltasche. Ein Holzkeil, im rechten Moment unter eine Tür gestoßen, kann Wunder tun. Der Junge fliegt die Treppe hinauf und hält einmal keuchend inne, um durch ein staubblindes Fenster festzustellen, dass sie die Tür probiert haben und sie für verschlossen halten, denn sie rennen nun über den Platz.
    Sein Atem pfeift. Er presst die Hände auf die Brust.
    Immerhin hat er Zeit gewonnen, vielleicht ein paar Minuten, vielleicht mehr. Hinaus kann er jetzt nicht. Also gibt es nur eine Richtung. Er schnürt die Schuhe auf, zieht sie aus und nimmt sie in die Hand. Oben ist der Einarmige, den er aus der Ferne kennt, vom Hinaufschauen, der könnte ihn mit seiner einen Hand am Kragen packen und hinunterwerfen, dann wäre die Flucht umsonst gewesen. Umsonst auf andere Weise als beim ersten Mal; beim ersten Mal ist er nach zwei Tagen freiwillig

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