Das Wolkenzimmer
oder her - die Steinmetze lebten ihr kleines Leben nicht anders, als es die Astronauten der NASA tun, die den Steinbrüchen dieses Kraters denselben Suevit zu entnehmen lernten, wenn auch nicht, um daraus eine Kirche zu bauen; die Aufgabe der Astronauten ist es, der Wissenschaft Beweise zu liefern. Vor dreißig Jahren, als der Türmer noch kein Türmer war, verfolgte er im Fernsehen seines Landes die Vorbereitungen der Apollomission. Ein Training der Astronauten in Deutschland gehörte dazu, im Meteoritenkrater, der fünfzehn Millionen Jahre zählt und dessen Stein dem Mondgestein ähnelt.
Die Balustrade unter den Händen des Türmers ist rau. Das Zerstörungswerk der Zeit, schleichend, unerbittlich. Der Türmer steckt einen Gesteinskrümel in die Tasche und setzt seinen Gang um den Turm fort. Im Osten hat der Hügelrand einen hellen Saum bekommen. Der Türmer sieht die Sonne früher als alle anderen Menschen der Stadt. Sie lugt über den Rand des Kraters, sie schiebt sich langsam herauf.
Als sie hoch genug ist, um ihr Licht in den Wehrgang der Stadtmauer zu schicken, treffen ihre Strahlen dort auf ein buntes Bündel. Der Türmer setzt das Fernglas an die Augen. Ein Mensch liegt eingerollt auf dem Wehrgang und schläft. Noch so ein kleines Leben. Ein Student vielleicht, der in der Jugendherberge nicht mehr untergekommen ist und sich kein Hotel leisten kann, ein Obdachloser auf Zeit.
Der Türmer beschließt seine Runde und geht in den Turm zurück. Wer die Welt seit bald acht Jahren von oben sieht, will ihr nicht mehr zu nahetreten, ihr und den kleinen Leben, die sich ja doch alle ähneln. Er hat sich an die Distanz gewöhnt und daran, mit seinem eigenen kleinen Leben allein gelassen zu sein.
Wenn nur das Mädchen nicht in seine Ruhe eingebrochen wäre. Der Türmer hat sich am Abend davon überzeugt, dass Veronika weg ist, nicht zurückgekommen, dass wirklich niemand mehr im Turm ist. Alle möglichen Verstecke hat er kontrolliert. Und trotzdem beschäftigt sie ihn noch und entfacht seinen Zorn, sowie er es zulässt, diesen Zorn, den er lange nicht mehr gespürt hat.
Er öffnet die Fenster. Am Ostfenster bleibt er eine Weile stehen. Er beugt sich hinaus. Unter ihm liegt die gewaltige, steil abfallende Fläche des Norddachs. Das bevorzugte Fenster des Einarmigen für den Nachttopf.
Mit einer Grimasse zieht der Türmer den Kopf zurück. Er geht zu seiner Stube. Der Ziegelboden ist ausgetreten und achtundzwanzig Jungenfüße sind es von hier bis zur Tür. Der Türmer bleibt mitten im Raum stehen. Es kommt noch so weit, dass er die Schuhe auszieht! Schuld ist Veronika. Sie hat den Zorn geweckt, und der Zorn ist wie eine Fackel, die über die blass gewordene Gestalt des Jungen flammt.
Der Türmer schüttelt den Kopf. Er wendet sich energisch seinen Morgenverrichtungen zu und geht dann hinunter zur Bäckerei.
Als er zurückkommt, sitzt Veronika auf den Stufen unter dem Vordach. Sie hat sich eine bunte Wolldecke untergeschoben und die Arme um den Reisesack geschlungen. Sie versucht ein Lächeln, es misslingt ihr.
Der Türmer möchte aufbegehren. Aber dann seufzt er nur und geht an ihr vorbei zur Tür. Die Bäckertüte raschelt. Er bemerkt, wie Veronika zu ihm aufsieht und schluckt. Er steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn um. Nach einem kleinen Zögern - das zumindest ist er sich schuldig - erlaubt er ihr mit einer Kopfbewegung den Zutritt.
Sie springt auf. Sie nimmt Reisesack und Decke unter den Arm. »Ich kann es erklären«, sagt sie.
Ein ganz neuer Ton. Der Türmer trägt in erzwungener Ruhe die Tafel nach draußen. Dann geht er hinein, drückt die Tür von innen zu und gibt dem Mädchen den Schlüssel am Bund. »Versuch, ob du zurechtkommst. Ich werde dich nach dem Frühstück zum Aufsperren hinunterschicken. Wirst du es tun?«
Veronika nickt, als hinge ihr Leben davon ab. Sie versperrt die Tür und gibt den Schlüsselbund zurück. Ein Lächeln gelingt ihr wieder nicht. Aber sie fängt unvermittelt zu erzählen an. Ihr Freund sei nach Italien gefahren und habe sie hier abgesetzt. Sie steigt schnell ein paar Stufen hinauf und dreht sich dann um: Mattis würde sie hier und nirgendwo sonst suchen - falls er sie überhaupt finden will. Jetzt, morgen, übermorgen. Spätestens in zehn Tagen. Danach aber nicht mehr.
»Ja?«, sagt der Türmer und spürt die ausgetretenen Steinstufen unter seinen Füßen wie beim ersten Mal.
»Weil er dann in Amerika ist«, sagt Veronika.
Sie deckt den Tisch,
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