Das Wolkenzimmer
die am Brunnen herumspielten und über den Wehrgang rannten, eine Gruppe Pfadfinder und zwei Straßenmusikanten, und mit keinem von ihnen hat sie geredet.
Veronika wickelt sich in ihre Decke und rollt sich auf den hölzernen Bodenplanken zusammen, den Reisesack unter dem Kopf. Als sie die Augen schließt, kann sie sich auf den Vorplatz der Türmerstube denken, und das hat beinahe etwas Tröstliches.
12
Der Junge ist vor Sonnenaufgang wach. Er liegt in einer Kuhle, einer geschützten Nische unter dem gewaltigen Kirchendach. Im Verhältnis zu seinem Schlafraum ist er klein wie ein Krümel. Dass er über den gigantischen Dachspeicher verfügt und ihn allein mit den Fledermäusen zu teilen hat, ist ein Gedanke, an den er sich inzwischen gewöhnt haben sollte. Doch wahrscheinlich gibt es Dinge, über die man für immer staunt.
Der Junge besitzt keine Uhr, ist aber auch nicht auf den Viertelstundenschlag der Turmuhr angewiesen, um sich in der Zeit zurechtzufinden, er hat ganz von selbst das sichere Zeitgefühl eines frei lebenden Tieres entwickelt. Durch feinste Risse in den Ziegelreihen sickert ein wenig Morgendämmerung herein, und noch bevor an einem schönen Hochsommertag wie diesem die Sonne aufgeht und Lichtblitze durch das kleine Bullauge im Ostgiebel schießen, verändert sich die pechschwarze Dunkelheit. Sie wird dünner, grauer, leichter, bis schließlich der Dachstuhl schemenhaft hervortritt und dem Raum die Tiefe und Dimension der Kathedrale aus Vaters Lexikon gibt. Auf der Nordseite ist das Dach vom Moos angefressen, der Junge hat es von einem Turmfenster aus gesehen, als er die Stelle suchte, an der die Fledermäuse ein- und ausfliegen. Wind und Wetter nagen an den brüchigen Ziegeln und schaffen kleine Einlässe für das Licht.
Die Fledermäuse kommen jetzt von ihrem Beutefang zurück, einzeln und in kleinen Geschwadern, schwirren hoch über ihm auf der Suche nach ihrem Schlafplatz kreuz und quer herum und hängen sich dann kopfunter an die Balken. Der Junge mag die Fledermäuse. Wenn sie ihn im Herbst verlassen, um ihr Winterquartier aufzusuchen, wird er ihnen nachtrauern.
Der Junge mag auch die blasse Stunde vor Sonnenaufgang. Besonders nach einer Nacht, die ruhig war. Er steht geräuschlos auf und faltet die Säcke, auf denen er geschlafen hat, zu einem schmalen Paket, das er sorgfältig mit einer Schnur umwickelt. Er knöpft sein Hemd auf, klemmt sich das Paket in den Hosenbund und schließt die Knöpfe darüber. Dann klettert er den mehrstöckigen Dachstuhl hinauf bis zum First und legt das Paket ganz oben ab. Es ist schmal, man wird es von unten nicht sehen können. Er hangelt sich wieder hinab, findet hier einen Halt für den Fuß und dort eine Kante für die Hand, balanciert über einen Querbalken und läuft dann den Längsbalken entlang, der zu einem kleinen Versteck führt: Unter einem Balkenstapel weit weg von der Schlafkuhle steckt eine ausgeleierte alte Männermütze, in der er Steinchen gesammelt hat. Er kann nur hoffen, dass sie nicht darauf stoßen, wenn er einmal schnell wie ein Eichhörnchen hinaufklettern und sich da oben verstecken muss, die Säcke als Einziges bei sich, sodass sie unten keine Spuren von ihm finden. Oder, falls sie doch darauf stoßen, dass es ihnen zu dumm ist, über eine Mütze voller Steine nachzudenken, die zu überhaupt nichts nütze sind.
Der Junge vergräbt die Hände in den Steinchen. Als er den Schlüssel im Türschloss hört, stellt er die pralle Mütze zurück ins Versteck und beobachtet die Tür.
13
Die Nacht ist vorüber. Der Türmer hängt sich das Dienstfernglas um, bevor er zum Kranz hinaufsteigt. Zuerst blickt er mit bloßem Auge hinab, auf die Dächer, in die stillen Straßen, zur Stadtmauer und hinaus in die Ebene bis zum fernen Hügelrand. Ein Meteorit hat das gewaltige, kreisrunde Loch in den Planeten geschlagen. In der Hitze des Aufschlags ist das Gestein geschmolzen und hat sich zu einer neuen, einzigartigen Mischung verbacken, dem grauen Suevit. Der Türmer streicht liebkosend mit den flachen Händen über die Balustrade. Ohne zu wissen, dass sie einen Stein bearbeiteten, den ein Geschoss aus dem Weltraum geschaffen hat, haben die längst vergessenen Steinmetze ihr hartes Material für die Kirche und den Turm behauen, ein Gestein, das dem Bauwerk sein urzeitliches Grau verleiht. Ihr Werk zu berühren, macht den Türmer zu ihrem Zeitgenossen, dort haben auch ihre Hände verweilt, als das Werk gelungen war.
Fünfhundert Jahre hin
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