Das Wolkenzimmer
zurückgekehrt. Um nicht zu verhungern. Und weil es Winter wurde. Keiner wollte ihn dafür von einem Turm werfen, doch gefreut hat sich auch niemand. Gefreut hat man sich nur, wenn er etwas Essbares von seinen nächtlichen Streifzügen mitbrachte.
Auf dem Turm war er noch nie. Er hat immer nur von unten hinaufgeschaut, aus dem schadhaften Dach des Hauses, in dem er geduldet war. Die Turmuhr hat alle Viertelstunden seines Lebens geschlagen. Fünfunddreißigtausend Viertelstunden im Jahr. Fast dreihundertfünfzigtausend in knapp zehn Lebensjahren. Rechnen ist ein guter Zeitvertreib, wenn man nicht darf, was andere dürfen: in die Schule gehen. Oder draußen Fangen und Verstecken spielen.
Ding-ding macht die helle Viertelstundenglocke. Als sie zuletzt viermal anschlug, folgte ihr die tiefe Stundenglocke mit sechs schweren Schlägen: Dong. Dong. Dong. Dong. Dong. Dong. Vorhin, als sie das Haus verließen und er in seinem Mantel in den kalten Aprilmorgen hinausging. Den Mantel hat er bereits angehabt, in ihm hat er geschlafen, denn es gibt schon lange keine Kohlen mehr im Haus, und der Frühling hat noch nicht die Kraft, die Wände zu erwärmen.
Leise wie eine Ratte huscht der Junge über die Steinstufen, die sich nach oben schrauben. Er ist noch nie auf einem Turm gewesen. Er weiß nicht, wie ein Turm innen aussieht, das Lexikon zeigt Türme nur von außen. Dass da plötzlich eine Tür in der Wand ist, auf der Kirchenseite - es muss von da in die Kirche gehen! Die Kirche ist riesig und hat Türen, die nach draußen führen, da kann er versuchen... Aber es ist abgeschlossen. Ihm bleibt wirklich nur der Weg nach oben.
Die Steinstufen laufen höher und höher in Windungen um eine Mitte herum, dann hören sie auf. Der Turm wird breiter, der Boden ist jetzt aus Holz, der Turm ist plötzlich sehr breit, mit einem tiefen Schacht in der Mitte. Und mit Holztreppen, die sich nach oben verlieren. Treppen über Treppen über Treppen, im Geviert die ganze dicke Turmmauer hinauf, sodass man schwindlig wird, wenn man den Kopf in den Nacken legt. Der Junge steht da und staunt: Er allein in diesem Riesenturm und nur oben, ganz oben, der Einarmige.
»So, Bürschchen«, sagt da eine Stimme dicht hinter ihm.
15
Der Himmel ist bleigrau und schwer wie ein umgestülpter Kessel. Es geht auf den Abend zu. Die spärlichen Besucher, die noch heraufkommen, sind nervös und beeilen sich, den Turm auf dem Kranz zu umrunden und sogleich wieder hinunterzupoltern. Der erste Blitz zuckt über den Himmel, ein fernes Donnergrollen antwortet.
Der Amerikaner steht auf. Er legt die Billettrolle in die Schublade zur Kasse und sperrt den Schreibtisch ab. Dann steigt er zum Kranz hinauf, um sich davon zu überzeugen, dass niemand mehr oben ist. Er kommt wieder herunter. Veronika beobachtet seine Bewegungen vom Fensterchen der Türmerstube aus, das ihr einen Blick auf den Überwachungsmonitor erlaubt. Fast den ganzen Tag hat sie hinter dieser Scheibe gestanden, überzeugt, dass Mattis genau dann auftaucht, wenn sie ihren Posten für eine Sekunde aufgibt. Sie hat allerdings versucht, es den Amerikaner nicht merken zu lassen.
Im Vorraum sind noch letzte Besucher. Die besonders mutigen besetzen die Fenster. Der Amerikaner muss sie einzeln bitten, jetzt zu gehen. Ein greller Blitz färbt die Gesichter. Der Wind fährt zu den Schalllöchern herein und pfeift durch die Treppenschächte.
Veronika verlässt ihr Guckfenster, das Wachestehen ist sinnlos geworden. Sie geht ans Nordwestfenster der Stube und legt die Stirn ans Glas.
Das jetzt mit Mattis teilen... Warum kommt er nicht, warum ist er nicht längst gekommen, um sie zu finden? Vielleicht trifft der Blitz den Turm, das wäre ein großartiger Abgang, ein Ereignis, das man landesweit in den Nachrichten bringen würde, vielleicht sogar weltweit, und wenn Veronika das Inferno da draußen sieht, den schwarzen Himmel und die Blitze, kann sie sich dieses Ende wunderbar vorstellen.
Nur er hätte es verhindern können, Mattis. Aber er hat es nicht verhindert, der Turm wird vom Blitz zerschmettert und sie mit ihm, es ist zu spät. Mattis kann zu Miss Seidenhaar fliegen und Small Talk machen, ein Leben lang. Es wird ihn anöden, und dann wird er erst merken, was er versäumt hat.
Veronika starrt in den schwarzen Himmel. Jeder Blitz ist ein Triumph, ist vielleicht das Ende. Sie spürt ihr Herz klopfen. Der Donner erschüttert den Turm und fährt ihr durch die Ohren in den Leib und wummert dort. Ein
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