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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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beobachten kann, die über das Steingeländer spucken und Papierflieger segeln lassen. Die Tür ist unversperrt. Aber der Umgang nützt ihm nichts, denn dort befindet man sich bereits hoch über der Stadt, unter sich das Kirchendach und weit darunter der freie Platz.
    Jascha passt auf, dass er dem Löschsand in der Ecke nicht zu nahe kommt, und klettert die nächste Stiege hinauf. Der Turm hat sich verengt. Es ist kälter geworden, auch luftiger, ein frischer Wind bläst durch die hohen Schallfenster herein. Jascha ist auf Höhe der Glocken, als er den Einarmigen die Treppen herunterkommen hört. Er fährt zurück. Der Einarmige, der hier so laut gehen kann, wie er will, ist schneller als er, und so nimmt Jascha doch die Tür hinaus, hinter der er sich auf den Boden wirft, um nicht vom Marktplatz aus gesehen zu werden. Er drückt sich an den kalten Stein, hält die Tür fest und wartet, bis der Einarmige vorüber ist.
    Jetzt hat er keine Wahl mehr, er muss hinauf, denn unten ist der Mann. Er steigt an den Glocken vorbei, gerade als von der Spitze des Turms die Uhr viermal schlägt, ihren hellen Doppelschlag, gefolgt von sieben tiefen Stundenschlägen. Da beginnt vor Jaschas Augen eine Glocke zu schwingen. Es ist die Morgenglocke, er kennt sie gut, direkt vor ihm holt sie aus und füllt den Turm und die ganze Luft mit ihrem Läuten, sodass Jascha die Hände auf die Ohren pressen muss und beinahe die Schuhe fallen lässt. Er flüchtet noch höher hinauf. Solange der Einarmige viele Stockwerke unter ihm am Glockenseil zieht, hat er nichts zu befürchten.
    Je weiter Jascha hinaufrennt, desto weniger kann er sich vorstellen, dass er den Turm wieder verlassen soll. Wie könnte etwas Winziges wie er den gewaltigen Turm stören, der seit undenklichen Zeiten hoch über die Stadt hinaus in den Himmel ragt und vieles kommen und gehen sah, der auch noch dastehen wird, wenn einmal die Nazis weg sein werden? Das hat Hermann gesagt, er hatte es von den Erwachsenen, die nicht ausreisen konnten oder wollten: Einmal werden die Nazis weg sein, wir müssen nur so lange aushalten und uns ducken und still sein; wir machen uns unsichtbar, dann tun sie uns nichts, und du, Jascha, hat Hermann gesagt, bleibst schön im Haus, wenn ich draußen bin, ich kann dich leicht mitversorgen. Mitversorgen, hat Hermann gesagt und ist dann doch ausgewandert, weil er da schon vierzehn war und die anderen ihn mitgenommen haben, und zu Jascha, den sie nicht wollten, hat er gesagt, du wartest bei Onkel Kühn, bis ich dich hole, Tante Kühn hat selbst ein paar kleine Kinder, da fällst du nicht auf, und sobald ich kann, hole ich dich.
    Aber Hermann ist nicht wiedergekommen. Er hat Briefe geschrieben, auch solche mit Adressen, die aber gar nichts nützten, denn zum Auswandern brauchte man Geld, und Onkel Kühn hatte keines, und bei Hermanns letztem Brief war das Auswandern dann sowieso plötzlich verboten. Die Adressen hat Jascha alle auswendig gelernt. Damit er seinen Bruder finden kann, wenn er sich lange genug unsichtbar gemacht hat und sich nicht hat abholen lassen und wenn die Nazis einmal weg sind und man hingehen kann, wohin man will. Denn das konnte man einmal: gehen oder fahren, wohin man wollte. Das war, bevor es die Nazis gab; Onkel Kühn hat es manchmal erzählt, aber Jascha kann es sich nicht vorstellen, denn die Nazis gibt es, seit er denken kann.
    Sich unsichtbar machen ist schwer, aber immer noch leichter, als Essen finden, Hermann hat ja keine Ahnung! Denn nun, wo man den gelben Stern auf dem Mantel hat, kann man nicht einfach irgendwo mithelfen und kriegt dann ein Schmalzbrot. Ein Schmalzbrot ist das Beste vom Besten. Auch wenn sie es, als Großmutter noch lebte, heimlich essen mussten, denn Schmalz ist nicht koscher, Schmalz kommt vom Schwein. Hermann kriegte es, weil man seine Hilfe hier und dort gebrauchen konnte. Weil Jascha aber klein ist und auch noch den Stern auf dem Mantel hat, kann er sich nirgendwo nützlich machen, und ein Schmalzbrot gab es also seit Hermann nicht mehr.
    Auf jeder Etage liegt Löschsand, wie zu Hause auch, das ist Vorschrift, und der Stadtpolizist Steidle sagt: Brennt ein Judenhaus, so kann es die ganze Stadt abfackeln. Wenn der Turm brennt, denkt Jascha, wird er selbst zur Fackel, denn innen ist er ja ganz aus Holz. Zu einem steinernen Flammenrohr müsste er werden.
    In der Türmerstube ist es warm, der Einarmige hat den Ofen geheizt. Es ist so freundlich und hell hier, dass es Jascha wie mit geheimer Kraft

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