Das Wolkenzimmer
selbst eine gewaltige Standuhr. Der Einarmige dreht eine Kurbel - das ist die Gelegenheit, die Tür in der Nische zu probieren. Doch genau wie die andere weiter unten ist auch sie versperrt.
Der Junge überwindet die Enttäuschung. Er wartet. Er ist nicht viel schlimmer dran als in den vergangenen vier Jahren. Er ist allein auf sich gestellt und das ist schon alles. Das ist in gewisser Weise sogar besser als die Hoffnung, jemand würde sich um ihn kümmern. Dass man ihn jetzt einfangen will, kommt freilich hinzu, aber er wird sich wehren. Hermann hat gesagt, keiner ist bisher zurückgekommen, den sie abgeholt haben, pass gut auf, dass sie dich nicht abholen, versteck dich. Und beschaff dir zu essen, Jascha, das ist wichtig!
Der Junge spürt seinen nagenden Hunger. Frühmorgens hat man ihn aus dem Schlaf gerissen, da war keine Zeit, an Essen zu denken. Am Abend zuvor durfte er auch nur den Topf auskratzen, mehr gab es nicht. Denn Tante Kühn teilte den wässerigen Brei schlecht ein und die anderen wollten von ihrer mageren Ration nichts mehr abgeben.
Jascha ist nachts noch durch ein paar Hinterhöfe gestrichen, hat aber nichts gefunden, nur den losen Laden hinter einem Sandsack, wo es nach Kartoffelkeller roch. Aber er wusste nicht, ob er da wieder rauskommen würde, es war zu dunkel. Doch vorhin hat es ihm genützt, dass er den losen Laden kannte. Onkel und Tante Kühn, die sind jetzt auf dem Weg zum Bahnhof, mit ihnen Hanni und Else und Adolf und der kleine Sigi, und dass sie vom Brei mehr abkriegten als er, nützt ihnen gar nichts, denn bisher ist keiner zurückgekommen, hat Hermann gesagt. Vater nicht, Mutter nicht, keiner, Jascha.
Das meiste, das Jascha weiß, stammt von Hermann und ist nun auch schon bald vier Jahre alt, persönliche Sachen, von Vater und Mutter und den anderen Familien. Hermann hat ihm außerdem Lesen und Schreiben beigebracht, sodass Jascha das Lexikon lesen konnte, das sie ihm heute Morgen aus der Hand stießen. Beinahe hätte er um das Buch gekämpft, das einmal seinem Vater gehört hat. Aber er hat den Gewehrkolben gesehen, auf Augenhöhe, und da hatte er keine Spucke mehr zum Reden.
Wenn er sich nur den ganzen Tag im Turm versteckt halten könnte! Nachts ist es dann bestimmt möglich, ungesehen durch ein Stadttor hinauszuhuschen. Die Stadt ist eine Falle, hier suchen sie ihn, und keine Tür wird sich für ihn öffnen. Er hat es ja schon einmal probiert, vor dem Winter, als der kleine Sigi geboren war und es noch enger wurde in den zwei Zimmern und Hanni, Else und Adolf wegen jeder Kleinigkeit über ihn herfielen. Aber nicht einmal die Frau, die angeblich die beste Freundin seiner Mutter in der Oberschule war, ließ ihn ein. Er hätte doch eine Familie, die ihn aufgenommen habe, sagte sie, für so einen Kleinen wie ihn sei dort sicherlich Platz. Sie hat ihm ein Brot zugesteckt. Aber wiederkommen durfte er nicht. Zu Grete konnte er auch nicht gehen. Schon seit zwei Jahren nicht mehr. Sie war ja Arierin und war aufgeflogen und verwarnt worden, und danach hat sie kein Essen mehr für ihn unter den Bottich an Tante Kühns Hintertür geschoben, obwohl sie Hermann hoch und heilig versprochen hat, für ihn zu sorgen, weil sie ja einmal sein Kindermädchen war und ihn sehr lieb gehabt hat.
Der Einarmige ist weitergestiegen. Bald hört Jascha nichts mehr als das Knacken im Uhrwerk und den Viertelstundenschlag der Uhr. Die dicken Mauern umstehen ihn fest und undurchdringlich. Beinahe könnte er jetzt vergessen, dass die Turmtür unversperrt ist, beinahe. Der Gedanke an die Tür treibt ihn weiter die Holzstiegen hinauf, leise, leise, er ist ja so leicht, dass kaum eine Stufe knarrt. Im Uhrenhaus könnte er sich verstecken. Doch es wäre unklug, sich selbst einzuschließen - ein offenes Versteck mit Fluchtmöglichkeit ist besser.
Jascha findet hier und dort einen dunklen Winkel hinter dem Treppengebälk und dann eine tiefe Nische in der Quadermauer, so tief und so groß wie die Fensternischen. Aber sollte es ein Fenster sein, so sieht man doch kein Fünkchen Licht. Denn die Nische ist voll von altem Baumaterial, und hinten, wo Glas sein sollte, ist eine Mauer. Jascha kriecht unter das Gerümpel. Es fühlt sich hier besser an als im Uhrenhaus, aber zufrieden ist er noch nicht, er muss weiter.
Er kommt an die Tür, die ins Freie führt, auf den unteren Umgang, auf dem an Festtagen prächtig gekleidete Bläser in ihre Hörner und Trompeten stoßen und wo man an normalen Werktagen Kinder
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