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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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jedes Pendel zum Ausschlagen bringen, das hat ihr Diana gezeigt, nur durch Konzentration. Ausgerechnet Diana.
    Als das Pendel schwingt, beobachten die Männer besorgt die Wände und dann den Boden zu ihren Füßen. Sie stellen die Beine unwillkürlich breiter, und Veronika muss sich auf die Lippe beißen, um ernst zu bleiben.
    Beim Gedanken allerdings, dass der Amerikaner vielleicht in der Nähe ist, beendet sie die Vorführung abrupt. »Das steht bestimmt auch in dem Heft da«, nuschelt sie.
    Sie verkauft daraufhin auch noch die letzten Broschüren. Und eine Menge Postkarten, die die Stadt von oben zeigen. Dach an Dach im Sonnenschein, zusammengehalten vom Rund der Stadtmauer, mittendrin der unglaubliche Turm.
    Vielleicht verkaufen sich solche Karten an einem Regentag besonders gut. Die Japaner hocken in den Fensternischen, draußen ist es grau, und schreiben die Rückseiten von leuchtend roten Karten voll, dann weiß man zu Hause, wie außerordentlich schön es hier ist. Vom Kranz sind sie recht schnell zurückgekommen und Veronika kann es ihnen nicht verdenken.
    Es ist der erste Regentag, seit sie hier ist. Wie lange ist sie überhaupt schon in der Stadt und im Turm? Sie rechnet zurück. Noch keine Woche, seit sie mit Mattis am Freitagmorgen, dem letzten Freitag im Juni, losgefahren ist. Mittwoch, es ist heute Mittwoch. Genau zwei Wochen bis zu seinem Flug. Es gibt ihr den gewohnten Stich, der dadurch nicht angenehmer wird, dass sie ihn nun schon gut kennt. Immerhin hat sie gelernt, dem Unbehagen etwas entgegenzusetzen, etwa das: Zwei Wochen sind eine Menge Zeit. Wenn man zwei Wochen in Stunden oder gar Minuten zerlegt, können tausend Sachen passieren. Jeden Moment kann es sein, dass Mattis auf dem Monitor auftaucht. Mattis, wie er in die Kamera schaut und heraufrennt und zwei Stufen auf einmal nimmt, weil er jetzt endlich angekommen ist, weil er Italien ohne sie sinnlos fand, weil er in einer Gewalttour hergefahren ist und jetzt nur noch auf den Turm muss, dann kann er sie in seine Arme reißen …
    »Auf Wiedersehen«, sagt jemand. Unter Glöckchengebimmel verlassen die Japaner die Türmeretage.
    »Auf Wiedersehen«, antwortet Veronika. Das ist kein Gruß, den sie sonst verwendet. Auf Wiedersehen, ziemlich unwahrscheinlich. Doch ist das Leben nicht voller Unwahrscheinlichkeiten? Sie zum Beispiel sitzt seit Tagen auf einem Turm und verkauft jetzt auch noch die Tickets! Wenn ihr das jemand vor einer Woche gesagt hätte. Dann wäre sie aber auch vorgewarnt gewesen und hätte vielleicht nicht in einem blinden Anfall die Autotür zugeschmissen und Mattis wegfahren lassen.
    Sie schaut mit verzerrtem Gesicht auf den Monitor. Gut nur, dass jetzt ein paar Besucher anrücken, die aus der Nähe sehen wollen, wie der Himmel eine Stadt ersäuft. Sie können  das heulende Elend gerade noch verhindern. Später kommt ein Pärchen herauf. Die beiden bleiben lange im strömenden Regen auf dem Kranz und haben hinterher tropfende Haare und nasse, glückliche Gesichter.
    Als sie gegangen sind, ist Veronika für kurze Zeit sehr allein. Und obwohl ab Mittag recht viel los ist, bleibt sie allein. Ob nicht die größte aller Unwahrscheinlichkeiten die ist, dass irgendjemand allen Ernstes glauben könnte, dass sie hier sitzt?
     

18
    Der Junge gehorcht nicht. Er behält die Schuhe in der Hand und huscht wieder nach oben. Auf der schmalen Steintreppe schraubt er sich lautlos hinauf, immer rund und rund, immer weiter weg von der gefährlichen Straße. Ohne aber vergessen zu können, dass die Tür unversperrt ist und jeder andere genauso heraufkommen kann. Mehrere Etagen über ihm stapft der Einarmige, der darf ihn nicht entdecken.
    Als die schützenden Windungen aufhören und der Hauptturm mit den vielen Treppenstiegen da ist, drückt sich der Junge in die Türnische, aus der heraus der Einarmige nach ihm gegriffen hat. Er sieht, dass der Sand frisch zum Haufen gekehrt wurde und seine Fußspuren verschwunden sind.
    Er folgt dem Hinaufsteigen des Mannes mit Augen und Ohren und zählt die Schritte, wie er immer alles zählen muss, was sich zählen lässt. Vier Holzstiegen, vier Wendungen, zwanzig Stufen, einundzwanzig, zehn, zwanzig. Die Schritte treten jetzt schlurfend auf dem Platz.
    Der Junge horcht angestrengt und kann das neue Geräusch erst einordnen, als sich unter dem Mahlen eines Aufzuggewindes die starken Seile nach oben bewegen, die tief in den Turm hinabreichen und an denen schwere Uhrgewichte hängen, als wäre der Turm

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