Das Wolkenzimmer
glaube, dass Frauen bis zuletzt eitler sind als Männer und dann doch lieber die Schlaftabletten wählen. Und was das Wetter anbelangt, so vermute ich, dass ein Regentag auf einen hoffnungslos unglücklichen Menschen nicht diese Wirkung hat, die ich als auslösende Wirkung bezeichne, die aber ein Tag haben kann, an dem die Sonne vom Himmel lacht, als würde sie des Unglücks spotten. Willst du noch mehr wissen?«
»Nein, danke.« Veronika dreht ihr Glas. Sie murmelt zusammenhanglos: »Aber in den Briefen da steht bestimmt Happy birthday.« Sie zeigt zum Bett.
»Das«, seufzt der Amerikaner, »muss ich ertragen. Es entspricht der Konvention.« Ein nachsichtiges Lächeln. Dann wird er ernst. »Bei uns beiden ist es etwas anderes. Denn schon dass du hier bist, widerspricht jeder Konvention. Bei dir wehre ich mich also.« Er sieht sie einen Moment schweigend an. »Das Wünschen, Nick, ist sinnlos.«
20
Jascha erwacht von einem durchdringenden Schrillen und knallt mit dem Kopf gegen ein Hindernis. Er hat keinen Raum nach oben und vor seinen Augen steht ein Nachttopf. Das Schrillen kommt von einem Telefon.
Er weiß sofort, wo er ist und dass er höchstens fünf Minuten geschlafen hat. Dabei hat er gar nicht einschlafen wollen.
Der Einarmige kommt hereingepoltert und nimmt das Telefon ab. Er horcht. Dann hört Jascha ihn sagen, dass er selbstverständlich aufpassen wird, dass er von oben aber natürlich nicht in jeden Winkel der Stadt hineinsieht. Ob er sicherheitshalber den Turm wieder abschließen soll? Nein? Nach der Schule kämen aber bestimmt Kinder herauf, ein paar kämen immer, und wie solle er... Ja, er würde aufpassen, zu Befehl, und natürlich könne er ein Judenkind von einem deutschen Kind unterscheiden, schon am Stern. Schlupfwinkel im Turm? Könne er sich kaum vorstellen. In der Kirche vielleicht, aber im Turm doch nicht. Ja, er würde die Augen offen halten und sofort Meldung machen. Allerdings sei der Turm hoch und er selbst wäre nicht gleichzeitig oben und unten. Ein zweiter Mann? Nun, normalerweise … Ja, er würde jetzt sofort den Turm durchkämmen, jeden Fensterwinkel, jawohl, und dazu brauche es keinen zweiten Mann, nein, bestimmt nicht.
Der Einarmige legt den Hörer auf die Gabel. Jascha erkennt das Geräusch, denn er hat manchmal mit Vaters Telefon gespielt, obwohl es ihm verboten war. Wie merkwürdig, dass er das nicht vergessen hat. Den ganzen Schreibtisch sieht er plötzlich vor sich, der von Büchern und Schriften bedeckt war, zwischen denen er mit dem Finger nach dem glatten Lack der Schreibtischplatte suchte, wenn er hinaufgeklettert war.
Während seines vierten Lebensjahres war Vater ja so gut wie nie da, und an vorher kann sich Jascha kaum erinnern, aber er weiß alles von Hermann. Sie haben Vater verboten, arische Schriften zu drucken, nur noch jüdische waren ihm erlaubt, und Vater ist von da an oft in die Großstadt gefahren und hat sich mit anderen jüdischen Verlegern und Zeitungsleuten getroffen. Er hat seinen kleinen Verlag geliebt und hat dann aber doch beschlossen, alles zu verkaufen und mit der Mutter, der Großmutter, Hermann und Jascha auszureisen. Er musste nur noch einen Käufer finden, der ihm so viel Geld für das Haus und den Verlag geben würde, dass sie genug zum Ausreisen und zum neuen Anfang in der Fremde haben würden.
Das zog sich hin, und die Dinge wurden täglich schlimmer, hat Hermann gesagt, und dann hat er seine Stimme ganz fest und hart gemacht für das, was immer als Nächstes kam. Wenn du weinst, Jascha, hat er mit seiner festen Stimme gesagt, erzähle ich es dir nie wieder. Wenn deine Augen klar und trocken bleiben, erzähle ich es dir alle Tage. Ich habe dich, und du hast mich, sonst keinen, seit Großmutter gestorben ist, sie ist vor Schmerz gestorben, aber wir beide sterben nicht vor Schmerz, wir leben, denn das ist alles, was wir tun können. Wir müssen wissen, was war, was geschehen ist, es ist für uns beide wichtig, denn wir sind die Söhne von Max und Fanny Rosen.
Jascha versucht, sich Max und Fanny Rosen vorzustellen, aber das ist schwer - während der Schreibtisch beim Klicken der Telefongabel plötzlich da war, von ganz allein. Auch Grete kann er sich vorstellen, die wohnt ja um die Ecke, und er hat sie in den letzten Jahren oft mit ihrer Einkaufstasche in der Straße gesehen. Weil sie arisch ist, hat Vater ihr damals kündigen müssen. Sie hat Jascha auf dem Arm gehabt, sie hat ihn mit ihren Tränen nass gemacht, bevor sie ging.
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