Das Wolkenzimmer
etwas besser gar nicht erst anfangen, man käme sonst am Ende so weit wie der Einarmige, hat er gemurmelt und dabei aufgepasst, dass kein Wasser aus der Wanne schwappte.
»Wer ist der Einarmige?«, will Veronika wissen, als sie mit heraufgezogenen Beinen auf ihrer Bank sitzt, den Rücken in der Fensterecke.
Der Amerikaner löst die Verdrahtung über dem Flaschenhals. »Du hast heute schon viel gefragt«, stellt er fest.
»Ich habe auch viel gearbeitet«, pariert sie. Etwas später fügt sie hinzu: »Das gibt mir kein Recht, ich weiß.«
Der Amerikaner fängt den Korken in der hohlen Hand und gießt Sekt in zwei Gläser. Er schiebt eines davon über den Tisch.
»Ich werde dir... sagen wir, drei Fragen beantworten. Ist das nicht in allen Märchen so?«
»Wünsche!«, korrigiert Veronika. »In den Märchen werden drei Wünsche erfüllt.«
»Das ist allerdings etwas anderes.«
»Ja, gut. Aber Antworten sind auch was«, sagt sie genügsam.
»Dann überleg dir deine Fragen.« Er prostet ihr zu und setzt sein Glas an die Lippen.
»Halt, Sie haben doch Geburtstag!« Veronika streckt den Arm über den Tisch und bringt mit einem Klick ihr Glas an seines. »Happy b…«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Nichts wünschen.«
»Warum nicht?« Sie nimmt einen Schluck und mustert ihn über das Glas hinweg.
Er zieht die Brauen hoch. »War das deine erste Frage?«
»Nein, warten Sie - nein. Lassen Sie mich überlegen.« So leicht soll er nicht davonkommen. Sie wird seine Herausforderung annehmen und wird ihre Optionen nicht verplempern, sondern die Fragen gut bedenken. Den wievielten Geburtstag er hat. Wo er heute war. Wer der Einarmige ist. Nein, überflüssige Frage. Wie auch die, warum er keinen Fernseher hat oder wo er duscht, denn die Plastikwanne hat er nicht benützt, seit sie im Turm ist. Nein, sie fragt besser, warum er eigentlich hier ist, warum er Amerika verlassen hat, warum er am Geburtstag unbedingt allein sein will. Oder richtiger, warum er immer allein sein will. Warum er sie aber nicht hinauswirft. Ob er Familie in Amerika hat oder ob die Briefe auf dem Bett von Freunden sind. Veronika holt Luft für ihre erste Frage. Da fällt ihr Blick auf den Stoffbeutel.
»Wozu sammeln Sie eigentlich die Steinchen?«
Sie hat sich selbst ein Bein gestellt.
Der Amerikaner war auf diese Frage ebenso wenig gefasst.
»Alle Achtung«, sagt er und sieht sie interessiert an. »Ich habe dich schon wieder unterschätzt.«
»Schon wieder?«
»Ja, du hast deine Einfühlungsgabe bereits bewiesen.«
»Wann denn?«
»Als du sagtest, kein Mensch ginge freiwillig für immer auf einen Turm. Gut, Lady. Das waren zwei Fragen und ich habe beide beantwortet. Bleibt noch deine Frage nach den Steinchen.«
»Nein!«, protestiert sie. »Das ist nicht fair!«
»Entspricht aber unserer Abmachung.« Er steht auf und holt den Stoffbeutel von der Ofenbank. Dann greift er hinein, schaufelt Steinchen auf den Tisch und verwandelt sie geschickt in geometrische Figuren.
»Das haben Sie schon einmal gemacht«, sagt Veronika verdrossen.
Er hält inne. »Ach?«
»Mit Brot.«
»Mit Brot, ja«, murmelt er. »Dann hat man länger davon.« Jetzt legt er Buchstaben. Einen Namen. Und eine Stadt. Dann schiebt er alles zusammen. »Ist ein Zeitvertreib«, sagt er.
»Den Sie gut geübt haben.«
»Ja«, sagt er. »Ich hatte Gelegenheit dazu.«
»Und dafür haben Sie die Steinchen gesammelt?«
»Wer sagt dir, dass ich sie gesammelt habe?«
»Ich hab’s gesehen. Sie picken sie von dem verwitterten Außenstein und stecken sie in die Tasche.«
»Tatsächlich. Du hast ein gutes Auge. Selbst in Extremsituationen.«
Veronika spürt sich erröten, als sie sich diese gewisse Situation vergegenwärtigt: wie sie sich in die Turmmauer krallte und vor Angst in die Hose machte.
Seine beiden rätselhaften Bemerkungen vom Morgen fallen ihr auch ein. »Darf ich dann wenigstens etwas fragen, das nicht Sie persönlich betrifft?«
»Bitte.« Er schiebt die Steinchen in den Stoffbeutel zurück.
Veronika richtet sich auf. »Warum kommen Männer eher infrage für das, was... ich vorhatte? Außerdem haben Sie gesagt, dass es bei solchem Wetter unwahrscheinlich sei.«
Der Amerikaner trinkt einen Schluck. Er stellt das Glas behutsam ab, dann faltet er die Hände an der Tischkante. »Weißt du, wie jemand aussieht, der mit hundertzwanzig Stundenkilometern aufs Pflaster schlägt?«
Veronika weicht die Wärme aus dem Gesicht.
Der Amerikaner nickt. »Nun, ich
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