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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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nicht, wohin mit den Händen, und legt sie an die Balustrade. Jetzt ist das Atmen etwas leichter. »Es ist... jedenfalls vorbei.« Sie nickt und entlässt endlich das Tor aus ihrem Blick.
    Da unten gibt es so viele Menschen, unter den Dächern, an den Tischen, manche noch in ihren Betten, manche unterwegs, die Kinder werden bald zur Schule gehen, hier sind noch keine Sommerferien, alles Menschen, von denen jeder sein Schicksal hat. Warum also sollte sie sich so wichtig nehmen?
    Sie quält sich eine Grimasse ab. »Immerhin«, sagt sie, »endet nicht jede Beziehung so filmreif, oder? Ich hätte nur noch mit einem Taschentuch winken müssen.«
    Der Amerikaner hat dazu nichts zu sagen. Sein Schweigen fühlt sich aber an wie eine Aufforderung weiterzureden.
    »Es ist seltsam«, murmelt Veronika. »Mir tut die Haut am ganzen Körper weh … Als wenn ich was Falsches angehabt und mich darin wund gescheuert hätte … Aber jetzt ist das weg und ich kriege besser Luft... Und die Haut wird sich schon wieder erholen. Was denken Sie?« Sie riskiert einen Blick.
    Der Amerikaner hat ein ganz kleines, ermutigendes Lächeln für sie.
    Da kommt plötzlich und ohne jede Vorwarnung ein weher Laut aus ihrem Mund. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, um die Tränen zurückzuhalten. Aber die sind nun nicht mehr zu stoppen. »Scheiße«, schluchzt sie.
    Er zieht sie schweigend an sich und bettet ihren Kopf an seine Schulter.
     

58
    Wie alle Jahre wird auch in diesem Jahr der Tag der Macht-übernahme gefeiert. Überall Fahnen, und die Pimpfe marschieren singend durch die Stadt, HJ und BDM auch. Auf dem Marktplatz ist eine Kundgebung, und Jascha kann vom Dach aus alles hören, denn sie haben Lautsprecher aufgestellt. Dem deutschen Sieg entgegen, brüllt der Lautsprecher.
    Wenn das wahr wird und es für immer mit den Nazis weitergeht, weiß Jascha nicht, was werden soll. Er hockt im Dach auf einem Balken und wagt an diesem Tag überhaupt nicht, sich zu rühren. Er hat die klammen Finger unter die Achseln gesteckt und kommt sich vor wie ein großer, einsamer, frierender Vogel.
    Ein endloser Tag, dieser 30. Januar 1944, der mit einem Fackelzug beschlossen wird, und als auch das noch überstanden ist und Jascha endlich aus dem Dach darf, um sich aufzuwärmen, gibt es wieder Fliegeralarm.
    Der Einarmige nimmt den Dolch und fügt dem Balken eine neue Wunde bei und fletscht die Zähne. »Dem deutschen Sieg entgegen, ja, gewiss! Da oben, da fliegt euer Sieg. Bomben und Tod, das ist euer Sieg«, schnaubt er.
    Kundgebungen verkraftet der Einarmige schwer, das hat Jascha schon gemerkt. Kommandos, große Worte. Wenn dieselbe Rede in der Zeitung steht, wirft er das Blatt hin und murmelt, ihr könnt viel schreiben.
    Bei Jascha ist es umgekehrt: Worte aus dem Lautsprecher - so drohend sie vom Platz heraufbrüllen mögen - verhallen und vergehen. Doch was gedruckt steht, auf der knisternden Zeitung unter Jaschas Hand, ein Aufruf des Führers, eine Hassrede des Dr. Goebbels, eine Mitteilung des Gauleiters, was gedruckt steht, schreit unablässig weiter und schreit von Terror, Hass und Vergeltung, von deutschem Blut und deutscher Seele und deutschem Willen und deutschen Waffen gegen die Feinde und Untermenschen. Worte, die keinen Lautsprecher brauchen, um schrecklich zu sein.
    An Neujahr hat der Führer verkündet, dass der Bombenterror die deutsche Kriegsmoral nur stärken wird und dass auch die Ausgebombten weiterkämpfen müssen. Keiner darf nachlassen, denn es geht um den Sieg - Deutschland wird siegen.
    Du hast nicht die rechte Stimme dafür, sagt der Einarmige in finsterem Spott, wenn Jascha so etwas vorliest. Zugleich bemerkt er aber das Knistern der Zeitung und dass es daher kommt, dass Jaschas Hand zittert, und dann brummt er, an den Gerüchten von der geplanten Invasion der Engländer müsse etwas dran sein, denn überall im Westen wird die Abwehr verstärkt, das sei ein ziemlich sicheres Zeichen. Abwehr bedeute allerdings Kampf, da dürfe man sich nichts vormachen.
    »Kampf bis zum letzten Mann und bis kein Stein mehr auf dem anderen steht«, sagt er bitter nach dem Großangriff auf Augsburg im Februar. Er hat dort eine Schwester gehabt, die wurde getötet. Andere Verwandte, ausgebombte, sind hierhergeflüchtet. Seine Frau hat das Haus jetzt brechend voll und es sind noch mehr hungrige Mäuler zu stopfen als vorher schon.
    Ganz Augsburg brennt, hätten die Flüchtlinge gesagt, die nichts retten konnten als das nackte Leben. Etwas an diesem 

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