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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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das obere Turmzimmer, sein Wolkenschiff, von der Treppe abtrennt. Von dort läuft er noch eine letzte Stiege hinauf und kann nun  zu den Uhrglocken klettern und einen höheren Punkt gibt es nicht mehr in der Stadt.
    Er darf zwar zum höchsten Punkt der Stadt klettern, aber schreiben darf er es nicht. Ein Brief nach Amerika - da kann er gleich zur Gestapo gehen. Und selbst wenn es unverdächtig wäre, nach Amerika zu schreiben, gäbe es noch immer die Zensur. Die Zensur liest den Brief und macht bei fragwürdigen Stellen einen schwarzen Balken darüber. Sogar die Feldpost hat schwarze Balken, hat ihm der Einarmige mit verzerrtem Gesicht erzählt. Die Feldpost ist von seinen Buben und liegt in der Andenkenschachtel, und wenn Jascha rechtzeitig merkt, dass sich ein Gespräch der Andenkenschachtel nähert, verstummt er sofort.
    Es gibt jetzt schon schrecklich viele in Russland Gefallene, und wofür, sagt der Einarmige, wenn es doch gar nicht mehr vorangeht, sondern zurück. Afrika hat man ja auch aufgeben müssen. Und der feige Verbündete hat kapituliert, aber so sind die Italiener. Von der See hört man auch nichts Gutes und jetzt kommt schon die fünfte Kriegsweihnacht. Dreimal todtraurige Weihnachten für seine Frau und das wird nicht mehr anders, sie stellt zwei Heldenbilder neben den Christbaum und weint sich die Augen aus. Da will der Einarmige lieber auf dem Turm bleiben und sich die Augen von der schneidenden Kälte auf dem Kranz kühlen lassen.
    Er kann sowieso nicht herunter vom Turm, auch nicht an Weihnachten, denn dem Feind ist es doch egal, dass man in Deutschland das Christfest feiert. Nein, vielmehr, er setzt sogar extragern seine Christbäume über den Großstädten ab, damit die Bomberpiloten ihre Ziele auch recht gut sehen können.
    Der Einarmige hat von Anfang an für jeden Fliegeralarm eine Kerbe in einen Balken geschnitzt. Bald reicht der Balken nicht mehr aus und er muss sich den nächsten suchen. Wenn der Heulton an- und abschwillt und die Bomber kommen, sieht Jascha ihn stumm am Fenster stehen. Er hat seinen Dolch in der Faust, als könnte er damit das Geschwader zwingen, wieder drüberwegzufliegen und die Bomben woanders abzuwerfen. Bei Entwarnung geht er aufatmend zum Balken und setzt eine Kerbe.
    »Sie brauchen unseren Turm noch«, knurrt er. »Für ihre Tagesflüge. Einen besseren Wegweiser findest du kaum. Ich glaube, die hätten nichts dagegen, wenn wir ihn nachts beleuchten würden.«
    Kurz vor Weihnachten macht der Einarmige einmal ein merkwürdiges Gesicht, als er Jascha abends aus dem Dach holt. Auf der Treppe liegt etwas in Zeitungspapier Eingewickeltes.
    »Nimm das mit hinauf«, sagt er.
    Jascha schnuppert wie ein Straßenköter an dem Päckchen und kriegt Riesenaugen.
    Dem Einarmigen splittert bei diesem Anblick die nachdenkliche Miene, er lacht. »Vom Steidle«, sagt er.
    In der Türmerstube machen sie das Papier auf. Ein schönes Stück Rauchspeck liegt vor ihnen. Jascha schießt das Wasser in den Mund, er hat schon beim Heraufgehen dauernd schlucken müssen.
    »Junge, Junge«, sagt der Einarmige.
    Jungejunge hat er noch nie gesagt.
    Der Stadtpolizist Steidle hat erfahren, dass einer von der Ortsgruppe die Frau des Einarmigen überwacht und schikaniert. Deshalb hat er etwas aus seinem Keller unter die blaue Uniformjacke gesteckt. Und weil man von der Wache aus direkt zum Turm sehen kann, hat er nur warten müssen, bis der Einarmige einmal herauskam. Einen Flachmann hat er auch in der Jacke gehabt und sie haben unter alten Kriegern und Invaliden auf den Sieg getrunken und sich dabei todernst ins Gesicht geschaut. Dann hat der Speck den Besitzer gewechselt, weil es auf dem Kranz doch saukalt ist und weil  ein Mann, der treppauf und treppab rennen muss, auch einmal einen Brocken Fleisch zwischen die Kiemen braucht.
    »So hab ich den Steidle nie gekannt«, sagt der Einarmige, und die Nachdenklichkeit kehrt auf sein Gesicht zurück.
     Der Stadtpolizist Steidle hat eine Schwester auf dem Land, die Bäuerin ist und ihn nicht verkommen lässt, wie er dem Einarmigen unter vier Augen erzählt. Am Neujahrstag 1944 ist das, als er zum zweiten Mal etwas unter der blauen Uniformjacke hat. Seine Schwester, sagt er, gehört auch zu den bewundernswerten Weibern, die mit wenig wirtschaften können und die doch tatsächlich manchmal eine Kleinigkeit am Staat vorbeibringen, trotz aller Überwachung. Hut ab vor den Weibern, sagt der Steidle.
    Dem Einarmigen ist das nicht geheuer und mit irgendeinem

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