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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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zum Bäcker gehen, das macht die Suche schwierig. Sosehr Veronika die Augen anstrengt, sie sieht niemanden, der zielbewusst auf ein Tor zugehen würde.
    Als sich ihr Kreis um den Turm schließt, sagt der Amerikaner, der in der Pforte steht: »Ist dir etwas runtergefallen?« Ein genauerer Blick in ihr angespanntes Gesicht veranlasst ihn allerdings zu fragen: »Was ist passiert?«
    »Mattis war hier.«
    »Oh …« Er ist mit einem Schritt neben ihr an der Balustrade. »War?«
    Sie nickt und beugt sich vor und fliegt schon wieder mit den Augen über die Straßenlücken zwischen den Häusern. Wenn sie Mattis noch ein Mal sehen könnte... Ihn noch einmal sehen, ihn weggehen sehen, denn mit jedem Weggehen ist der Horror ein bisschen weniger geworden. Wenn sie ihm oft genug hinterhergesehen hat, kann sie ihm vielleicht sogar eines Tages unbeschwert und fröhlich nachrufen …
    »Warum hast du ihn weggeschickt?«, fragt der Amerikaner.
    »Habe ich das?«, murmelt sie.
    »Ich denke doch. Möchtest du ihn zurückrufen? Er hat sicher ein Handy.«
    »Nein. Ich will ihn nur gehen sehen.«
    »Du willst ihn … Ah ja.« Er verstummt. Er kneift die Augen zusammen, um ihr suchen zu helfen. Plötzlich zieht er Veronika am Arm zu einer anderen Stelle des Kranzes und zeigt hinunter.
    »Dein Freund geht durch dieses Tor hinaus. Da draußen ist ein Touristenparkplatz, den wählen alle Fremden, sie finden in der Stadt keinen Parkplatz.«
    Die Straße ist in Teilen einzusehen. Aber ist es nicht längst zu spät? In der Zeit, die Veronika gebraucht hat, um heraufzusteigen, sollte Mattis wohl ein Tor erreicht haben. Es sei denn, er ist kreuz und quer und auf Umwegen …
    »Da!« Der Amerikaner zeigt hinunter. »Ist er das?«
    Veronika spürt einen heftigen Stich. Aus einer Gasse beim Tor und sehr weit weg von ihr ist jemand in die Straße getreten, das könnte Mattis sein. Er sieht sich um, und an der Art, wie er in Richtung Tor schwenkt, erkennt sie, dass er es sein muss.
    »Ja«, krächzt sie. Es ist unglaublich, aber sie hat tatsächlich die paar Sekunden erwischt, in denen Mattis zum Tor hinausgeht. Sie beobachtet ihn stumm, er ist es, er geht rasch, er dreht sich nicht mehr um, das Tor schluckt ihn und gibt ihn nicht mehr heraus. Jetzt erst ist er wirklich weg.
    Sie starrt auf die Stelle, bis ihr die Augen tränen. Ihre  Schultern, ihr Hals, das Gesicht - alles ist verkrampft, sogar die Beinmuskeln schmerzen.
    Da draußen, jenseits von Tor und Mauer, sperrt Mattis jetzt sein Auto auf. Vielleicht wirft er noch einen Blick auf die Karte, bevor er losfährt. Er lässt den Wagen an und fädelt sich in den Frühverkehr Richtung Umgehungsstraße ein. Wenn er erst einmal auf der Umgehung ist, denkt er nur noch an die nächste Autobahnauffahrt. Er wird vielleicht am ersten Rasthof herausfahren und frühstücken und - vermutlich - sich ausmalen, wie es wäre, wenn sie während der Heimfahrt neben ihm sitzen würde. So war es ja gedacht. Sie hätte vielleicht am Steuer sitzen sollen, denn er muss doch müde von der langen Nachtfahrt sein …
    Ob er vor Zorn kocht, weil sie auf seinen generösen Rückholungsakt verzichtet hat? Weil sie ihn wie einen Idioten dastehen ließ, weil sie auch noch den Mut hatte, ihm nachzurufen, weil es auf ihre Frage doch nur eine Antwort gegeben hätte und weil er zu feige war, sie auszusprechen: Um etwas abzuschließen, bin ich gekommen, um dich deinen Eltern zurückzugeben, um sagen zu können, hier, bitte, von jetzt an bin ich nicht mehr verantwortlich.
    Er wird in seinem Zorn frühstücken, ohne zu schmecken, was er isst. Vielleicht verbrennt er sich die Zunge am heißen Kaffee und wird davon noch wütender. Hellwach wird er sein und wird verbissen fahren, bis er eine Pause braucht, in der er vielleicht ein wenig im Auto pennt. Beim Aufwachen wird er schon sehr weit von ihr weg sein und die Erleichterung wird größer sein als der Zorn. Mattis wird an die Abschiedsfete denken und an die Leute, die er eingeladen hat, und er wird tief durchatmen und zu summen oder zu pfeifen anfangen, denn er ist frei, frei für alles, was kommt, und morgen um diese Zeit ist er schon in der Luft.
    Auch Veronika atmet jetzt tief ein. Es tut weh, so verkrampft ist ihre Brust.
    »Er war es?«, fragt der Amerikaner. Und als sie nickt: »Schlimm?«
    »Im Gegenteil«, lügt Veronika. Sie stützt das verzerrte Gesicht in die Hände. »Überhaupt nicht schlimm, sondern eher gut... Doch, wirklich.«
    Sie richtet sich wieder auf, sie weiß

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