Das Wolkenzimmer
Satz stimmt nicht; Jascha grübelt darüber, und plötzlich weiß er es: Die Flüchtlinge besitzen weit mehr als das nackte Leben. Sie dürfen sich auf der Straße zeigen, sie können Zug fahren, sie klopfen an eine Tür, sie bekommen Suppe von der Hilfsküche und eine Lebensmittelkarte vom Amt und das ist ja noch lange nicht alles.
Während das bloße nackte Leben eine Ameise ist, die jeder zertreten kann. Ob Hermann das eigentlich weiß? Ob Hermann überhaupt auch nur eine Ahnung hat, wie alles geworden ist, seit er aus Deutschland weggegangen ist?
Der Einarmige vermutet, dass Hermann durchaus eine Ahnung hat und dass man im Ausland das eine oder andere weiß und vielleicht sogar genauer als jemand, der immer in so einer kleinen Stadt lebt wie sie beide. Er hat sich übrigens auch umzuhören versucht, es gibt ja jetzt so viele Leute aus den Großstädten hier, und geredet wird viel. Aber ganz merkwürdig ist das: Nie erwähnt jemand einen Juden oder irgendetwas Jüdisches. Es ist, als hätte es die Juden nie gegeben.
»Die müssen wirklich alle fort sein«, sagt er und sieht Jascha seltsam an. »Ich glaube fast, du bist der Letzte.«
»Dann wird Hermann mich vielleicht gar nicht suchen«, sagt Jascha erschrocken.
Der Einarmige betrachtet ihn eine Weile. »Wenn ich dich so anschaue«, sagt er, »und wenn ich bedenke, was für ein zäher Bursche du bist, und wenn dein Bruder aus demselben Holz ist, dann kommt ihr zwei nach dem Krieg zusammen, das garantiere ich dir. Was ist er denn für ein Jahrgang, dein Hermann, wann ist er geboren?«
»Neunzehnhundertvierundzwanzig«, sagt Jascha, »und er ist bestimmt aus demselben Holz!«
»Wollen wir’s hoffen. - Zwanzig ist er jetzt...« Seine Stimme verändert sich auf einmal. »So alt ist mein Jüngster gewesen«, flüstert er rau. »Ein Bub noch, er hat sich freiwillig gemeldet, weil der ältere Bruder schon dabei war. Wir haben nichts machen können, er hat seinen Dickschädel durchgesetzt. Der dumme Bub …«
Der Einarmige fährt sich mit dem Handrücken über die Nase. Aber es genügt nicht, er braucht doch noch das Sacktuch. Er schnäuzt sich und behält das Tuch in der Hand. »Was für eine Welt ist das.« Er schüttelt den Kopf. »Ihr seid auch zwei Buben; ihr seid am Leben, aber dafür sind eure Eltern... umgekommen. Da weiß man bald nicht, was schlimmer ist. Und meine Schwester war als Mädel immer so eine Lustige, die hat doch auch keinem was getan …«
Er schnäuzt sich kräftig und murmelt dann: »Bub, weil ich an meine Schwester denken muss, wir sind ja auch einmal Kinder gewesen - früher hat man einfach auf dem Feld gearbeitet, und wenn Gottes Segen darauf lag, war es ein gutes Jahr. Heute dagegen ist alles Kampf. Das Bauernhandwerk, du kannst es in der Zeitung lesen, ist jetzt eine Erzeugungsschlacht, und wehe dem, der sein Kontingent nicht erfüllt. Kampf und Krieg bis zum Samenkorn in der Ackerfurche. Das ist das tausendjährige Reich.«
Jascha senkt den Kopf; das tausendjährige Reich ist auch eins dieser schrecklichen Worte. Er ist ein halbes Jahr vor der Machtergreifung geboren; die tausend Jahre dauern schon, seit er lebt und haben dabei doch erst angefangen, denn was sind zwölf Jahre gegen tausend?
Die Kinder seines Alters feiern das »Tausendjährige Reich« am Führergeburtstag wie gewohnt mit Fahnen, Trommeln und Liedern. Sie laufen auf den Turm und spucken hinunter. Eine ganze Schule aus Bremen mit allen Kindern und Lehrern ist seit diesem Schuljahr hier, nie gab es mehr Kinder in der Stadt. Sie singen und marschieren, und nur einer hockt im hintersten Winkel des Kirchendachs und wartet, dass auch dieser Tag vorübergeht.
Jascha musste schon die Nacht im Dach verbringen, sicherheitshalber, denn in aller Frühe wurde beflaggt; und seit der Einarmige mit ihm das karge Abendbrot geteilt und ein Wort über Geburtstage verloren hat, brütet er über allen ungelösten Fragen und einer neuen dazu, die heißt: Wie kann es sein, dass zwei so unterschiedliche Menschen wie der Führer und der Einarmige im selben Jahr und Monat geboren sind?
Das Gezwitscher der Singvögel in den Bäumen auf dem Platz kann man bis ins Dach hören, der Frühling ist in vollem Gange, als der Einarmige mit einer aufregenden Nachricht aus der Stadt zurückkommt.
»Sie sind gelandet, am Atlantik, und von dort aus werden sie vorrücken«, sagt er und holt zum ersten Mal wieder eine Karte heraus. In Frankreich kennt er sich ein bisschen aus, er hat da seinen Arm
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