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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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muss er darüber reden. Deshalb erfährt Jascha jedes Wort des Gesprächs.
    »Ich hab ja abgewehrt«, sagt der Einarmige. »Aber der Steidle hat das nicht gelten lassen. Er kriegt auch auf Marken, hat er gesagt, und muss nicht in einem kalten Turm hausen und ich soll es schon nehmen, basta. Was hätte ich also tun sollen?«
    Jascha kann darauf keine Antwort geben und es wird auch keine von ihm erwartet.
    »Vom falschen Stolz«, knurrt der Einarmige, »werden wir nicht satt.«
    Und dann murmelt er noch etwas von einem Burschen, der anfängt, in die Hosen eines Mannes hineinzuwachsen.
    Das ist nun allerdings stark übertrieben, findet Jascha. Er muss sich die Hose mit einer Schnur um den Leib binden, und unter ihr wäre Platz für zehn wollene Unterhosen, wenn er die hätte, aber er hat nur zwei. Die trägt er übereinander, und wenn eine dringend gewaschen werden muss, hat er einen kalten Tag und eine noch kältere Nacht zu überstehen.
    An solchen Tagen turnt er den Dachstuhl rauf und runter, um warm zu bleiben, und davon bekommt er noch mehr Hunger als sonst schon.
    Die erste Sonderration vom Stadtpolizisten Steidle haben sie sich eingeteilt und langsam gegessen, jeder einen dünnen Streifen Speck pro Tag. Mit der zweiten Ration werden sie schneller fertig. Aber eine dritte gibt es nicht, trotz Jaschas heimlicher Hoffnung. Sie müssen wieder mit dem auskommen, was die Frau des Einarmigen für eine Person in den Rucksack packt. Das ist jetzt schwerer als vorher. Denn wenn man immer damit rechnet, es liegt ein Päckchen auf der Stiege, wenn es aber nie stimmt, dann beißt der Hunger wie ein tollwütiger Hund.
    Jascha muss jetzt öfter an das Judenhaus denken und an Tante Kühn, wie sie manchmal geweint hat, weil von dem wenigen Essen niemand satt geworden ist und weil sie nicht einmal Milch für die Kinder bekommen hat. Hoffentlich werden sie dort satt, wo sie jetzt sind, denkt Jascha. Aber er denkt es mit dem Kopf, er fühlt es nicht. Er glaubt, so denken zu müssen. In Wirklichkeit spürt er aber nur den eigenen Hunger. Und einen zweiten Hunger, den des Einarmigen, denn an dem ist er schuld, weil er dem Mann die Hälfte wegisst.
    Wenigstens haben sie ein Dach über dem Kopf, sagt der Einarmige. Und so viel Holz ist auch noch da, dass er am Morgen den Gerstenkaffee und am Abend eine Suppe kochen kann, in die man das Brot tunkt. Wo es doch jetzt so viele Ausgebombte gibt, die gar nichts mehr haben. Schlimm muss das in den Großstädten aussehen, wie man so hört, von Leuten, die hier bei Verwandten untergekommen sind. Kein Wunder, dass die Stimmung immer schlechter wird. Man darf es ja nicht laut sagen, draußen jedenfalls nicht, man passt auch auf, dass kein Kind in der Nähe ist und etwas aufschnappen und sich dann verplappern könnte. Aber hinter verschlossenen Türen heißt es jetzt öfter, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, und je schneller der Amerikaner kommt, desto besser.
    Das und anderes erzählt der Einarmige Jascha, wenn sie nach einem Fliegeralarm schlecht einschlafen können.
    »Ein solches Wort am falschen Platz - und sie stellen dich an die Wand«, sagt er dazu, recht leise, als hätten selbst die Turmwände Ohren.
    Jascha muss sich anstrengen, wenn er ihn verstehen will. Denn mit dem gemeinsamen Strohsack ist es vorbei. Jascha hat ein Lager aus Reisig, darüber liegt ein Kartoffelsack voll Stroh, alles Material zum Anheizen und deshalb unverdächtig. Man muss es nur am Morgen wieder in Ordnung bringen. In ganz kalten Nächten kommt es vor, dass sie sich trotzdem Rücken an Rücken wärmen, aber sonst gehört es sich nicht mehr, so beieinander zu liegen, das geht nur, solange einer ein Kind ist.
    Jascha versteht es nicht, und seinetwegen könnten die Nächte im Turm nun immer bitterkalt sein, sodass der Einarmige leise ruft: Komm rüber, wir müssen ja nicht erfrieren.
     

57
    Veronika findet den Amerikaner nicht mehr in der Türmerstube. Auch die gelbe Wanne mit dem Geschirr und allem anderen ist weg. Sie geht zum Kranz hinauf. Hinter der Holzwand hört sie ihn hantieren. Sie wirft einen Blick durch die geöffnete Tür, legt die Bäckertüte ab und läuft auf den Kranz hinaus. Mit der Hand an der Balustrade umrundet sie den Turm und sucht in den Straßen, die zu den Toren führen, nach Mattis.
    Die Straßen zu den Toren sind aber nicht schnurgerade, sondern leicht gekrümmt, ganze Abschnitte werden von den Häusern verdeckt. Inzwischen sind auch Autos unterwegs und Leute, die zur Arbeit oder

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