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Das Wort des Hastur - 12

Das Wort des Hastur - 12

Titel: Das Wort des Hastur - 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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viele einfache Dinge hielten neue Freuden bereit – Dinge, von denen sie keine Notiz genommen hatte: die Wärme des Feuers, die Weichheit des Pelzbesatzes an ihrem Umhang, die Würze des Bieres und der Geschmack des Nußkuchens, den man ihr zum Abendessen servierte.
    Durch ihre Ausbildung zur Bewahrerin hatte Leonie gelernt, stark zu sein, geringfügige Unannehmlichkeiten nicht zu beachten und sich von den kleinen Freuden nicht ablenken zu lassen; aber das brauchte doch nicht zu bedeuten, daß man all diese gewöhnlichen Wonnen, die das Leben lebenswert machten, völlig vergaß! Ganz gewiß konnte sie gleichzeitig stark sein und Freude empfinden. Sie würde gleichzeitig Bewahrerin und Pflegemutter sein.
     
    Als Ferrika eingeschlafen war, gab Leonie sie wieder in die Obhut der Amme und schloß sich dann den anderen des Ersten Kreises an, die sich auf die Nachtschicht vorbereiteten. Bei ihrem Eintreten verstummten die Gespräche im Raum, und selbst die Gedanken wurden rasch unterdrückt.
    Sie haben also wieder über mich geredet. Dabei besteht für dieses abrupte Schweigen keinerlei Anlaß. Als ob wir hier irgendwelche Geheimnisse voreinander hätten!
    Schon seit einigen Monaten war ihr bekannt, daß Mario, der junge Techniker, der jetzt aufstand, um ihr seinen Platz anzubieten, sie in heimlicher und hoffnungsloser Liebe verehrte. Leonie war sich ihrer eigenen Schönheit und deren Wirkung auf einige der Männer in Arilinn nur vage bewußt. Mario war bestimmt nicht der erste, und höchstwahrscheinlich auch nicht der letzte, der ihren Reizen erlag, aber die heilige Aura, die sie umgab, und auch die scharlachrote Robe hielten die Männer auf Distanz und veranlaßten sie, ihre Gefühle sorgfältig in Schach zu halten. So war die Bewahrerin imstande, darüber hinwegzusehen, und das Schmachten der Männer war für sie kaum je beunruhigender als ein plötzlicher leichter Schneefall an einem warmen Tag.
    Alida Ardais, die Erste Technikerin, gab gar nicht erst vor, irgend etwas verbergen zu wollen. Sie war einige Jahre älter als Leonie, und nur ihre Unzufriedenheit mit dem abgeschirmten Leben und ihre Vorliebe, sich sowohl in die Angelegenheiten der Türme als auch der Domänen einzumischen, hatten sie davon abgehalten, selbst eine einflußreiche Bewahrerin zu werden. Ihr Wort hatte Gewicht.
    »Leonie, du bist die mächtigste und unumstrittenste Bewahrerin seit Menschengedenken. Aber wenn du auf diesem lächerlichen Vorhaben beharrst, gefährdest du nicht nur deinen eigenen Ruf, sondern auch Arilinns führende Position unter den Türmen. Ich möchte mir nicht anmaßen, dich zu kritisieren, aber …«
    Leonie schnitt ihr das Wort ab. »Dann laß es auch«, gab sie ungeduldig zurück. Wieder senkte sich Schweigen über die versammelte Runde. Ich muß sie dazu bringen, dachte Leonie, diesen neuen Schritt zu verstehen oder wenigstens zu akzeptieren. Aber das kann ich erst, wenn ich diesen Schritt selbst besser verstehe.
    »Laßt uns endlich anfangen!« ordnete sie an und führte die Mannschaft in den angrenzenden Raum, in dem die Matrix der neunten Ebene zum Schürfen von Erz untergebracht war.
     
    Die nächtliche Arbeit verlief in gewohnter Routine. Leonie bündelte die versammelten Geisterkräfte und richtete mittels der Matrix ihre gesamte Konzentration auf den ausschließlichen Zweck ihrer Aufgabe. Sie war sich aber schwach bewußt, daß die Anstrengung heute mehr an ihren Kräften zehrte als sonst; ihre Verbindung zu den anderen Kreismitgliedern war nicht wie üblich scharf und klar, sondern verschwommen. Die Sehnsucht des jungen Mario nach ihrer Liebe, die sie ansonsten so leicht übergehen konnte, nagte an ihrer Aufmerksamkeit; ihr war, als ob ein geistiger Klotz an ihrem Bein sie in ihrer Konzentration beeinträchtigte. Als der Überwacher Donal den Kreis eine halbe Stunde früher als sonst auflöste, fragte Leonie sich, ob es nicht besser wäre, Mario fortzuschicken, anstatt durch das erdrückende Gefühl seiner verbotenen Liebe zusätzlich belastet zu werden.
    Alida murrte über die kümmerliche Arbeitsleistung der Nachtschicht. »Da stimmt doch was nicht. Liegt es an uns, Donal? Ist einer von uns krank?«
    »Nein«, erwiderte Donal. »Alle scheinen nur ziemlich erschöpft zu sein, besonders Leonie. Das soll vorkommen. Mach dir deshalb keine Sorgen.«
    Leonie wartete Alidas Antwort nicht mehr ab. Sie nahm sich noch eine Frucht, wünschte allen eine gute Nacht und ging zu Bett.
     
    Ferrikas Geschrei weckte Leonie

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