Das Wort des Hastur - 12
mitten aus ihren Träumen. Die Amme hob die Kleine auf und wollte sie wegtragen. »Ich werde sie stillen, Mylady, und danach wird sie bestimmt ganz ruhig schlafen.«
Aber Leonie konnte nicht wieder einschlafen. Ihre Träume bedrückten sie. In ihnen mischten sich Bilder von Elorie Lindirs Qualen mit solchen von Marios Sehnsucht, die er so tapfer zu unterdrücken versuchte; und schließlich waren da Bilder von gefangenen Vögeln, die mit ihren Schwingen gegen die Stäbe ihrer Käfige schlugen und dabei ihre Flügel zerbrachen.
Als die Amme das Baby zurückbrachte, sagte Leonie: »Gebt sie mir. Ich werde sie in meinem Bett schlafen lassen.« Sie merkte, wie sehr die Amme dies mißbilligte, aber die Frau würde es nie wagen, einer Bewahrerin zu widersprechen. Ferrika wurde auf das Bett gesetzt, und Leonie legte sich daneben. In Gedanken konnte sie den zufriedenen Zustand des Säuglings nachempfinden – der wohltuende Nachgeschmack der Milch und die Tiefe des Schlafs. Allmählich wurde auch Leonie schläfrig und sank zurück in ihre Träume. Die Vögel schlugen jetzt nicht mehr gegen die Gitterstäbe, sondern kauerten auf ihren Stangen beieinander, falteten die Flügel zusammen und putzten ihre Federn. Aber auch das Bild von Mario kehrte zurück. Fast schon mit Behagen nahm Leonie die Zärtlichkeit wahr, die er ihr gegenüber empfand, spürte sein Entzücken an ihrem Gesicht, und in ihrem übersinnlichen Rapport …
Leonie schreckte hellwach auf. Gnadenreiche Avarra, sie haben allen Grund besorgt zu sein! Als Bewahrerin hatte sie gelernt, jede Form von sexuellem Verlangen, jede Leidenschaft, ja selbst alle Gedanken oder Gefühle auszublenden, die möglicherweise die Energiebahnen in ihrem Körper unterbrechen konnten, in denen sie während der Matrixarbeit den Fluß der Kräfte kanalisierte. Schonungslos hatte man ihr beigebracht, jeden ihrer Gedanken, jede Gefühlsregung und jede Wahrnehmung vollständig zu kontrollieren. In gleicher Weise hatten alle anderen um sie herum gelernt, nie mit körperlicher Berührung oder heimlichen Gedanken in ihren inneren Frieden einzubrechen. Aber was ihr jetzt widerfuhr, war viel heimtückischer, als sie sich hatte vorstellen können!
Es war gar nicht Ferrikas Anwesenheit, die ihre Fähigkeit beeinträchtigte, diese vollständige Kontrolle auszuüben. Es war vielmehr ihre nachlassende Willenskraft, diese Fähigkeit einzusetzen. Sie selbst, Leonie, wollte nicht länger das Wissen um Marios Liebe ausblenden, wollte nicht länger unerreichbar bleiben. Was ihr zuvor gleichgültig gewesen war, verlangte sie jetzt zu spüren: die Wärme des Feuers, die Weichheit des Pelzes, die Zuneigung eines Mannes …
Ihre Geisteskraft war gebrochen. Aber Leonies Willenskraft, sich mit all ihren Gedanken und Gefühlen dieser Geisteskraft zu unterwerfen, geriet ins Schwanken.
Keine Bewahrerin sollte das je durchmachen müssen.
Tieftraurig und von einer düsteren Ahnung erfüllt, stand Leonie von ihrem Bett auf, hob behutsam die schlafende Ferrika hoch und trug sie zu ihrer Wiege. Sie gestattete sich nicht einmal, der Wärme, die von dem kleinen Bündel auf ihren Armen ausging, nachzuspüren. Sie war wieder die alte Bewahrerin, schonungslos gegen sich selbst. Und sie ermahnte sich selbst, nicht zu vergessen, daß sie seit jenem Tag, an dem sie erstmals das Scharlachrot anlegte, nicht mehr geweint hatte.
»Ich danke dir, Lorill, daß du so schnell zurückgekehrt bist.«
»Man wird sich auf der Alton-Domäne bestens um sie kümmern. Du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen. «
Vor dem Turm wartete ein Paar mittleren Alters, das vor Stolz strahlte. Die Stiefel des Mannes und die Art, wie er sein Schwert trug, verrieten den altgedienten Gardeoffizier. Die Amme bestieg ihr Pferd, bereit, den beiden zu folgen.
»Glaubst du wirklich, Lorill, daß es so schrecklich wichtig ist, die Traditionen ganz ohne Veränderungen zu bewahren?«
»Vielleicht nicht immer, aber jetzt ganz bestimmt. Was werden die kommenden Jahre bringen? Die Aldarans im Bündnis mit den Terranern, von denen wir so wenig wissen – da laufen wir Gefahr, unsere Selbständigkeit, ja sogar unsere Identität zu verlieren. In solchen Zeiten des Umbruchs brauchen wir einen festen Halt, an den wir uns klammern können. Die Bewahrerin von Arilinn ist einer unserer Garanten für Stabilität. Was immer es dich auch kosten mag, Leonie, es lohnt den Preis.«
»Ich hoffe, du hast recht, Lorill. Ich hoffe inständig, daß es den Preis
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