Das Wort des Hastur - 12
strengsten Disziplin als Bewahrerin schon vergessen hatte. Etwas von der Kälte in ihr wich, als sie das kleine, warme Bündel liebkoste und das Gewicht der schlafenden Ferrika auf ihren Armen spürte. Warum sollte sie auch darauf verzichten? Der Preis, den sie als Bewahrerin zu zahlen hatte, war schon hoch genug. War es nicht mehr als gerecht, wenn ihr dieses eine Glück im Leben gegönnt sein sollte?
Leise schlich Leonie in den angrenzenden Raum, wo die regungslose Hülle einer jungen Frau im durch Laran herbeigeführten Tiefschlaf lag. Leonie überwachte ihren Zustand, indem sie mit den Händen einige Zentimeter über dem Körper entlangstrich, und stellte zufrieden fest, daß keine Infektion oder gar Verfall eingesetzt hatte, sondern daß die Wunden sauber verheilten. Leonie selbst hatte ihr diese Wunden bei dem drastischen Eingriff zufügen müssen, den sie gesetzwidrig vorgenommen hatte. Nein, nicht gesetzwidrig – denn die Bewahrerin von Arilinn war sich selbst Gesetz und brauchte nur ihrem eigenen Gewissen zu gehorchen.
Im Schlaf verriet das Gesicht, das einst so schön und noch immer beklagenswert jung war, wenig von den Qualen, die so tiefe Spuren hinterlassen hatten, daß Leonie vor einigen Langwochen dann doch eingewilligt hatte, die verzweifelte junge Adlige hier in Arilinn zu empfangen.
Vieles, was dieses arme Mädchen damals gewesen war, traf jetzt auf sie nicht mehr zu: sie war eine Frau gewesen; schwanger; mit einem ehrenwerten Namen, wenn auch der Schatten eines Skandals darauf lastete. Völlig gebrochen stand sie kurz vor dem Selbstmord. Eben diese Drohung – und Leonies Gewißheit, daß es das Mädchen ernst damit meinte – hatten die Bewahrerin schließlich davon überzeugt, ihrem Flehen nachzugeben und die verbotene Sterilisation vorzunehmen. Nur so glaubte das Mädchen, der ungewollten Aufmerksamkeit der Männer entgehen zu können und nicht länger in Angst und Schrecken vor Entführung und Vergewaltigung leben zu müssen. Aber dieser Eingriff durfte erst nach der Geburt des Kindes erfolgen.
»Ich werde bestimmt nie wieder den Namen Elorie Lindir tragen«, hatte ihr die Kindfrau geschworen. »Ich möchte nur noch vergessen. Könnt Ihr auch die Erinnerung an das, was sie mir angetan haben, von mir nehmen?«
»Nur auf Kosten deines Larans. Möchtest du wirklich kopfblind weiterleben, nur um zu vergessen?«
»Ja!« hatte das Mädchen beharrt, aber Leonie ließ sich am Ende trotzdem nur auf einen Kompromiß ein: Ihr Gedächtnis und Laran wurden getrübt, aber nicht unwiederbringlich gelöscht.
»Es ist schon einschneidend genug, deinen Körper so zu verändern, daß du nie wieder ganz als Frau leben, nie wieder Kinder gebären, nie wieder körperliche Liebe erfahren kannst.«
»Das sind alles Entscheidungen, die auch Ihr für Euch getroffen habt.«
»Ja, aber nicht unwiderruflich. Und da ich den Preis dafür kenne, tue ich dir dies nur mit dem größten Bedauern und voller Zweifel an. Ich tue es aus Mitgefühl für deine Schmerzen, auch wenn du dafür keine der Entschädigungen erhalten wirst, die ich empfangen habe. Aber ich werde nicht auch noch den Teil deines Geistes auf ewig zerstören, der dich zu dem macht, was du bist, und der dich die Entscheidung, die du getroffen hast, verstehen läßt, falls einmal der Tag kommen sollte, an dem du sie bedauerst.«
»Dieser Tag wird niemals kommen. Nie! Nie!«
Leonie brachte das Mädchen auf Arilinn unter und schirmte es während der Schwangerschaft vor allen äußeren Einflüssen ab. Nachdem Elorie entbunden hatte und erschöpft im Kindbett lag, vollzog Leonie die Operation, um die sie so inständig gefleht hatte, wobei sie auch das Gedächtnis des Mädchen trübte, damit die entsetzlichen Erinnerungen an Vergewaltigung und Verstoßung und die Geburt eines Kindes, das sie nie sehen würde, Elorie nicht stärker verfolgen würden, als sie es ertragen konnte.
Und im Gegenzug behielt Leonie das Kind bei sich.
Als die Amme später die kleine Ferrika zurückbrachte, nahm Leonie sie auf den Arm, ging mit ihr vor dem Fenster auf und ab und summte ein kleines Wiegenlied, das ihre eigene Amme oft angestimmt hatte und das Leonie schon vergessen zu haben schien.
Sie hatte den Eindruck, daß sich so vieles verändert hatte. Entzückt stellte Leonie fest, mit welcher Kraft die kleinen Hände Ferrikas bereits ihren Finger umschlossen. Zärtlich strich sie über die kleine Stupsnase, die sich eines Tages nach oben kräuseln würde. So
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