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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Waterweg in die linke Pobacke. »Au«, schrie ich und drehte mich um, woraufhin der Junge, der vor mir stand, der Unterkante meines Becherglases einen kräftigen Stoß versetzte. Daß ich naß wurde, störte mich weniger als das höhnische, brutale, wilde, schallende Gelächter der Rekrutenanwärter. Und danach mußte ich auch noch das Gezeter des Armeearztes über mich ergehen lassen, der mit der verbliebenen Urinmenge in meinem Becherglas nichts anfangen konnte. Warum es so wenig war - das interessierte ihn nicht. Das war einfach meine Schuld. Ich hätte ja besser aufpassen können.
    Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an dieses schallende, höhnische Gelächter. Auch erinnere ich mich daran, daß das Kader, das uns musterte, den ganzen Tag über ein Loblied auf braunen Zucker und hartgekochte Eier, »Bumspatronen« genannt, sang.
    Von diesem braunen Zucker und diesen Bumspatronen wollte ich gern für immer verschont bleiben, und sollte das nicht gelingen, so mußte ich zumindest von der Möglichkeit, zurückgestellt zu werden, Gebrauch machen; dessen war ich mir sicher, als ich im Dritter-Klasse-Wagen nach Hause fuhr. Es gab nur ein einziges Mittel, zurückgestellt zu werden: studieren. Eigentlich wollte ich das gar nicht, ich wollte Komponist oder zumindest Musiker werden, doch erschien das als ein unerreichbares Ziel. Dann also in Gottes Namen studieren.
    Im Gymnasium hatten wir eine Broschüre erhalten: »Nach dem Abschlußexamen studieren.« Darin stand, daß man sich, wenn der Vater nicht sehr viel verdiente, um ein Stipendium bewerben könne. Bereits nach einem einzigen Gespräch mit meinem Vater entdeckte ich, daß er, schlauer Schacherer, der er war, mit seinen Lumpen und seinem Metall, mit Altpapier und Krempel so viel verdiente, daß ich für ein Stipendium vermutlich nicht in Frage kam.
    Mir schien es bei der sprichwörtlichen Sparsamkeit meines Vaters äußerst unwahrscheinlich, daß er auch nur einen Cent für ein Studium verwenden würde, wonach ich mich doch so sehnte. Ich wagte es nicht einmal, vorsichtig danach zu fragen. Gott sei Dank fing er selbst eines Abends davon an, »Und? Was hast du dir nun für die Zeit nach dem Examen überlegt? Was willst du eigentlich machen?«
    »Studieren«, sagte ich.
    »Kost' Geld«, sagte er.
    »Ja«, sagte ich.
    »Ich hab in deinem Zimmer ein paar Bücher übers Studieren liegen sehen. Ich hab ein bißchen drin geblättert. Es ist lächerlich, was Jungen wie du vom Staat bekommen, um zu studieren. Du kannst mit der Hälfte davon, wenn du etwas sparsam bist, leicht auskommen; brauchst dich nur ein bißchen nach der Decke zu strecken, dann reicht es auch.
    Wenn du darüber so im großen und ganzen mit mir einig bist, will ich dir was sagen. Du kannst von mir aus mit der Hälfte anfangen zu studieren, wenn du auf Doktor lernst.«
    »Doktor?« sagte ich verständnislos.
    »Ja«, sagte er, »Doktor. Du hast eine solche Portion Verstand, daß zwei davon studieren könnten. Damit kannst du mit einem Wuppdich Doktor werden... nee, warte mal eben, laß mich erst mein Sprüchlein aufsagen... Was du eigentlich willst, das ist die Musik, das brauchst du mir gar nicht erst zu erzählen, das weiß ich schon lange, aber ich denke nicht dran, mein gutes Geld dafür auf den Tisch zu legen, auch weil ich weiß, daß Musiker vor Hunger nicht kacken können und nur deshalb noch nicht tot an ihrer Futterkrippe sitzen, weil sie ab und zu ganz hübsch schwarz dazu verdienen. Würdest du wirklich so leben wollen? Du mit deinem Verstand aus Gold? Ach, komm! Denk doch mal an den Mann, der in den Busch gegangen ist, warte, ich hab seinen Namen vergessen, aber ich komm noch drauf. Dieser Mann war auch ein einziger Musikbolzen, genau wie du, der konnte auch eine ganze Gänseherde spielen und schnatternde Gänseriche dazu, soviel er nur wollte. Er hat hier in der Schans vor dem Krieg auf der Orgel gefiedelt, davon sind heute noch alle begeistert, und? Ist dieser Mann in die Musik gegangen? Nein, dieser Mann ist Doktor geworden und in den Busch gegangen, im Dienst der leidenden Menschheit.«
    Die Ansprache meines Vaters stockte. Er hatte einen Kloß im Hals. Er holte sein rotes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen trocken.
    »Im Dienst der leidenden Menschheit«, wiederholte er mit zitternder Stimme, »daran denk mal, das könntest du auch tun, anstatt dir an solch einem Jammerkasten das Herz zu erleichtern. Mit deinem Köpfchen kannst du denselben Weg

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