Das Wüten der ganzen Welt
Schwangere Frauen wissen, daß die Kleinen in ihren Bäuchen bei Konzerten sehr munter sind. Ich habe die Bauchwand meiner Mutter beinahe kaputtgestoßen bei Konzerten der Groninger Orchestervereinigung, und vor allem, wenn sie Bruckner spielten.«
Er lachte selber so ansteckend, daß wir mitlachen mußten. Danach wiederholte er etwas nachdenklich und, wie es schien, sehr zufrieden: »Ja, vor allem bei Bruckner.«
Er stand auf, ging zum Grammophon, sagte: »Und jetzt werde ich das schönste Musikstück auflegen, das ich kenne.« Er suchte in seiner Plattensammlung, drehte sich während des Suchens halb um, sagte: »Aber auch wenn ich glaube, daß Musikalität unendlich viel mit diesen ersten neun Monaten in tiefer Finsternis zu tun hat, muß ich doch zugeben, daß bei mir die Liebe zur Musik auch sehr stark mit meinem Vater verbunden ist. Wenn er abends nach Hause kam, flötete er draußen auf der Straße immer eine Melodie auf seinem Hausschlüssel. Dann lief meine Mutter zur Tür, um sie aufzumachen. Das ist doch eine äußerst bemerkenswerte Art, einen Hausschlüssel zu benutzen, um die Haustür geöffnet zu bekommen.«
»Auf dem Hausschlüssel flöten?« fragte William verblüfft.
»Ja, das war so ein altmodischer Schlüssel mit einer hohlen Stange, so ein Pfeifenschlüssel.«
»War das denn im Haus zu hören?« fragte ich.
»Zu hören? Mein Vater war bärenstark, und er flötete auf einem wohl besonders kräftigen Pfeifenschlüssel. Und so schön, so schön, er hätte ein Konzert auf seinem Schlüssel geben können. Ach ja, mein Vater... mein Vater... ich wollte, ich könnte ihn noch einmal auf seinem Schlüssel flöten hören!«
Er legte eine Platte auf. Er sagte: »Jetzt ganz still, es ist nur ein kleines Stück, es sind, glaube ich, nur siebenundzwanzig Takte, und zuerst hören wir uns den Lärm an, der ihnen vorausgeht.«
Wir lauschten, aber draußen zündeten die gassies Knallfrösche und Schwärmer, und einige Schiffe nahmen mit ihren klagenden Nebelhörnern den Zwölf-Uhr-Glockenschlag schon vorweg. Nach einem langen, ziemlich lautstarken Chorgesang folgte eine kurze Pause, und Minderhout sagte: »Jetzt kommt es«, und eine Männerstimme sang »Contessa, perdono, perdono, perdono«, und eine Frauenstimme sang dagegen an, und dann folgte ein Chor, und ich fand die Musik damals eigentlich überhaupt nicht so wunderbar, während ich jetzt, so viele Jahre später, diese siebenundzwanzig Takte als eine der schönsten Eingebungen empfinde, die jemals in einem Menschenherzen aufgestiegen ist. Leicht könnte man nun sagen, daß ich noch nicht soweit war, und so wird es auch gewesen sein, obwohl ich damals schon monatelang Mozarts Neunundzwanzigste Symphonie in meinem Herzen gehegt hatte. Minderhout bekam jedenfalls Tränen in die Augen bei dieser möglicherweise schönsten Eingebung Mozarts, und von diesen Tränen geriet ich, der ich im Hoofd noch nie einen Mann mit Tränen in den Augen gesehen hatte, ziemlich außer mir, obwohl ich in dem Moment noch nicht wußte, daß er »Contessa, perdono« vor allem spielen ließ, weil seine Frau ihm weggelaufen war. Versuchte er, sie mit diesen siebenundzwanzig Takten zu beschwören, zu ihm zurückzukommen? Wer kann das wissen?
Nach dem Mozart-Stück tranken wir eine Weile schweigend unseren Wein. Selbst er schwieg, und das will etwas heißen. Draußen probten die Lotsenboote und Seeschlepper noch immer ihre Nebelhörner, Schiffsglocken und Sirenen. Plötzlich sagte er: »Ich hätte es gern, wenn ihr fortan Simon zu mir sagtet.«
Wir nickten brav. Wir wußten noch nicht, wie schwer es uns fallen würde, ihn, der soviel älter war als wir, zu duzen.
Draußen war wieder das Geknall der Feuerwerkskörper zu hören, und ich sagte: »Wenn ich einen solchen Knall höre, muß ich immer an Vroombout denken.«
»O ja«, sagte Minderhout.
»Ja«, sagte ich, »es ist nun schon ein paar Jahre her, aber ich... Douvetrap hat mir einige Fotos gezeigt. «
»Ja, stimmt überhaupt, danach hatte ich dich noch fragen wollen«, sagte Minderhout, »hat er dir auch Fotos gezeigt, auf denen Alice war?«
»Ja«, sagte ich, »und auch Fotos, auf denen Sie waren.«
»Wir wollten von jetzt an du sagen«, sagte Minderhout.
»Wie kommt das eigentlich, diese Fotos?« fragte ich unbeholfen.
»Ich schätze, die haben noch keinen blassen Schimmer, wer es getan haben könnte, und so ein Douvetrap hat Zeit genug, denn hier passiert natürlich nie was, der sucht also noch immer nach allen
Weitere Kostenlose Bücher