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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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rief er, »was ist los?« Sie sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Er sagte: »Na ja, dann komm rauf.« Ein wenig später saß auch sie, mit hochroten Wangen, im Erker.
    »Oh, wie ist mir warm!« sagte sie. Da ich nicht wußte, warum sie gekommen war, wartete ich, bis es mir einer von beiden sagen würde. Aber der Moment kam nicht, und so behielt sie den ganzen Abend über etwas Geheimnisvolles, etwas Unerklärliches für mich.
    William sagte: »Wir fangen wieder am Beginn des zweiten Satzes an. Und ich verlange ausdrücklich, daß wir, solange die Musik erklingt, unsere Münder absolut geschlossen halten. Es ist bekannt, daß Gott drei Geschlechter geschaffen hat: Männer, Frauen und Tenöre, und daß er bei einem der drei Geschlechter - wir lassen einmal offen, bei welchem -, hoffentlich unbeabsichtigt, einen störenden Webfehler gemacht hat. Dieses Geschlecht hat nämlich die äußerst unangenehme Neigung, in die Musik hineinzureden. Da hier heute abend Vertreter aller drei Geschlechter anwesend sind, könnte dieser Webfehler uns übel ankommen. Wenn das passiert, wird der Vertreter dieses Geschlechts auf der Stelle die Treppe hinuntergeworfen.«
    Auf diese Art zum Schweigen gebracht, saß Janny da und schaute abwechselnd mich und William an. Sie lächelte manchmal, sie hielt ihren Kopf schräg, und sie schaute ab und an so herausfordernd, daß ich mich verwirrt umdrehte und meinen Blick auf den dunkel glänzenden Fluß richtete. Während ich auf das Wasser starrte, fragte ich mich: Ob sie mich wohl noch ansieht? Und unvermeidlich kam dann der Augenblick, an dem ich schnell einmal lauerte, ob sie noch guckte. War das der Fall, schien es, als habe sie mich ertappt. Sie selbst fand das anscheinend auch, denn dann erschien neben einem schiefen Lächeln ein mutwilliges Glitzern in ihren Augen. Wahrscheinlich wäre es viel besser gewesen, wenn William dieses Sprechverbot nicht verhängt hätte. Auch dann hätten wir uns zwar angesehen, aber dann hätten Lachen und Reden den Blick neutralisiert.
    Natürlich hatte ich Janny schon oft gesehen. Selbstverständlich nie ohne Herman und nie für längere Zeit. In Wirklichkeit nahm ich sie während des zweiten Satzes der Unvollendeten zum erstenmal wahr. Auch sie betrachtete mich anscheinend zum erstenmal als jemanden, der tatsächlich existierte. Bei den Einleitungstakten des Andante con moto sah sie William noch ebensooft an wie mich, aber als die Passagen mit all den Synkopen folgten, hatte sie ihn, wie es schien, vergessen. Immer wenn ich über den Fluß auf die grünen und roten Lichter der Duckdalben gestarrt hatte und mich dann, ob ich wollte oder nicht, umsehen mußte, um festzustellen, ob sie mich noch ansah, ertappte sie mich, und wieder erschien das liebe, schiefe Lächeln.
    War sie anziehend? Sie hatte rote Haare und ein ebenmäßiges, rundliches Gesicht. Sie hatte etwas verblüffend Fröhliches und Lachlustiges an sich und war sich dessen anscheinend auch sehr bewußt, denn oft sagte sie nach einem Lachanfall: »Wißt ihr, ich kann aber auch ganz melancholisch sein, sehr, sehr melancholisch!« Wir lernten allerdings nie ihre Schwermut kennen an all den Sommerabenden, die sie mit uns im Erker verbrachte. Und an all den Abenden war es selbstverständlich, daß ich sie, die beinahe denselben Weg hatte wie ich, bis an die Haustür begleitete.
    Da sie bereits verlobt war, konnte ich auf dem Weg nach Hause ohne Hintergedanken mit ihr reden und lachen und scherzen. Es ist, als könnte ich diese Sommerabende noch immer riechen. Im Hoofd fehlte jede erdenkliche Form von Grünanlage. Was wir rochen, war der Fluß, aber den rochen wir dafür fortwährend. Der Fluß war allgegenwärtig. Selbst wenn wir uns von ihm entfernten, machte er seinen Einfluß geltend: am Hafen, an dem wir entlanggingen, und auf der Brücke, die wir überqueren mußten, um das Viertel zu erreichen, in dem sie wohnte.
    Am ersten Abend sagte sie unterwegs: »Ich vermisse Herman so. Er schreibt sehr nette Briefe, aber oh, wie bin ich einsam, ich hänge nur zu Hause rum. Früher wäre ich zu einer meiner Freundinnen gegangen, aber alle meine Freundinnen haben jetzt einen Freund, sie werden giftig, wenn ich bei ihnen angelaufen komme.«

    Sie seufzte tief, und ich roch den Fluß. Es war schon beinahe dunkel, und hier und da funkelte ein früher Stern.
    Es fällt mir schwer, über sie zu schreiben. Lieber hätte ich sie aus meiner Geschichte weggelassen, aber sie hat mich völlig unbeabsichtigt der

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