Das Wüten der ganzen Welt
wußtest du das schon?« fragte er.
»Nein«, sagte ich.
»Laß dir das eine Lehre sein«, sagte er, »und ich darf wohl allmählich hoffen, daß du dort das Loch in der Tür nicht mehr zu finden weißt. Nun sieht man doch wieder, auch Minderhout ist nichts weiter als ein Prophet, der sich von Brot ernährt.«
»Das kannst du wohl sagen«, sagte meine Mutter.
»Und da hast du nun noch Silvester gefeiert«, sagte mein Vater. »War seine Frau denn Silvester noch da?«
»Ja«, log ich.
»Sonst hätte er sich da bestimmt schon mit diesem Dämchen amüsiert.«
»Ich kann es dir nicht verbieten, noch weiter dorthin zu gehen«, sagte meine Mutter, »aber was mich betrifft, hätte ich es lieber nicht.«
»Und dem schließe ich mich nun völlig an, das paßt ja gut«, sagte mein Vater.
Sie hätten mir das, wie sich zeigte, gar nicht zu sagen brauchen. Minderhout lud mich nach dem Silvesterabend nicht mehr ein, an seinem Flügel das Haus zu bewachen. War es, weil er sich schämte, daß er mir gesagt hatte, er suche absichtlich häßliche Mädchen aus, und war er nun doch dem Charme einer seiner Helferinnen erlegen? Mir erschien das damals wahrscheinlicher als heute. Heute denke ich, daß er auf mich als klavierspielenden Wachmann gut verzichten konnte. Vor allem seine Frau war es gewesen, die Angst vor Einbrechern gehabt hatte. Nachdem sie ausgezogen war, schien es ihm offenbar völlig gleichgültig zu sein, ob Haus und Apotheke leer geräumt würden.
Wie auch immer: Üben auf dem Bösendorfer war also vorbei. Wohl wurde ich, wenn ich ihm auf der Straße begegnete, aufs herzlichste gegrüßt, und einige Male sagte er: »Komm doch wieder mal zum Musizieren«, aber dabei blieb es. Mit William spielte ich bei ihm zu Hause oder in der Kirche, und kein einziges Mal sprachen wir mehr über Minderhouts mögliche Beteiligung an der Ermordung Vroombouts. Manchmal hatte ich in diesen ersten Monaten des neuen Jahres sogar das Gefühl, als sei dieser Mord nie passiert. Doch war ohnehin alles, was ich in jenen Tagen erlebte, flüchtig, sche menhaft, schien nicht wert, erinnert zu werden, bis auf die kostbaren Augenblicke, in denen ich etwas hörte, was mich wirklich bis ins Innerste anrührte. So werde ich nie vergessen, daß ich zufällig eines Mittags um ein Uhr im Radio zum erstenmal das Violinkonzert in E-dur von Bach hörte. Eigentlich merkwürdig, denn bei uns zu Hause wurde das Radio immer sofort abgestellt, wenn klassische Musik gespielt wurde. Waren mein Vater und meine Mutter denn dieses eine Mal nicht zu Hause? Oder hatte ich damals schon mein eigenes kleines Radio? Wie dem auch sei: Bachs E-dur-Konzert half mir über die grauen Tage hinweg. Und im April, am Palmsonntag, hörte ich zum erstenmal die Matthäus-Passion, die aus dem Concertgebouw übertragen wurde - und diesmal ganz gewiß in dem kleinen Radio, das mein Vater zusammen mit zwei Ballen Lumpen einem Binnenschiffer abgeluchst hatte. Der kleine Apparat funktionierte noch und bekam einen Ehrenplatz in meinem Dachkämmerchen. Mit dem Frequenzanzeiger suchte ich abends nach klassischer Musik. Aus fernen Ländern kamen dann die Offenbarungen, nach denen ich mich verzehrte, manchmal kaum zu hören, so sehr rauschte es.
War es auch in jenen Tagen, als sie auf France Musique nachmittags um vier Uhr so oft das Klavierkonzert von Schumann sendeten? Sicher ist jedenfalls, daß das zweite Thema des ersten Satzes mir immer durch den Kopf geisterte, wenn ich mit Janny auf dem Deich spazierte. Aber ich will nicht vorgreifen. Bevor die Sommerferien anbrachen, in denen ich mit Janny auf dem Deich spazierenging, mußte ich erst noch meine Abschlußprüfung machen, dann für den Militärdienst gemustert werden und auch noch mit meinem Vater über meine Zukunft sprechen. Diese drei Dinge - Abschlußprüfung, Musterung, Zukunft - waren unlösbar miteinander verbunden. Spätestens nach der Musterung wollte ich es um jeden Preis vermeiden, Militärdienst leisten zu müssen. Am Tag der Musterung stand ich zwischen all meinen Quälgeistern vom Hoofd, mit denen ich, wenn ich eingezogen würde, nach Ossendrecht käme. Die zu gosern he rangewachsenen gassies freuten sich unbändig darauf, daß sie mich zwei Jahre lang würden triezen können; darauf nahmen sie schon mal einen Vorschuß. Wir mußten erst pinkeln und uns dann alle mit einem Becherglas voll Urin in einer Reihe aufstellen. Als wir dort standen, kniff mich der Junge, der hinter mir stand, mit aller Kraft eines goser vom
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