Das Wüten der ganzen Welt
Minderhout Apotheker würde? Dann rufen sie dich wenigstens nachts nicht aus dem Bett, du brauchst keine Sprechstunden abzuhalten oder Hausbesuche zu machen, du bist eigentlich sehr frei. Vielleicht fällt mein Vater darauf rein, vielleicht, wenn ich sage, ich möchte wohl Medizin studieren, aber mehr in Richtung Heilmittelstudium, damit er das auch gut findet. Wenn man Arznei herstellt, hilft man der leidenden Menschheit doch auch? Allerdings darf ich nie das Wort ›Apotheker‹ fallenlassen. Dann denkt er sofort an Minderhout und sagt: ›Nie im Leben!‹«
Später am Abend sagte ich zu meinem Vater, daß ich nie darauf gekommen wäre, aber daß es doch etwas für mich sein könnte.
»Aber ich würde lieber so jemand wie Fleming sein, der das Penizillin erfunden hat«, sagte ich.
»Fleming? Nie gehört. Hat er das Penizillin denn auch in den Busch gebracht?«
»Ja, ganze Schiffsladungen voll«, log ich.
»Das kommt davon, wenn man immer nur zwischen Lumpen und Alteisen hockt«, sagte mein Vater, »dann weiß man solche Dinge nicht, aber das macht mir weiter nichts aus, wenn du nur Doktor werden willst...«
»Nun ja, Doktor... jemand der Heilmittel macht.«
»Das ist ein und dasselbe«, sagte mein Vater.
Als ich mich kurz danach auf Anraten eines der Konrektoren des Gymnasiums vorläufig als Student der Pharmazie einschreiben ließ, wußte ich, daß ich meinen Vater betrog und mich selbst auc h. Aber das Studium schien so weit entfernt zu sein, es war erst Anfang Juni, ein ganzer Sommer ohne Pharmazie lag noch vor mir, und worauf es ankam, war allein, daß ich möglichst lange nicht eingezogen wurde. Notfalls also etwas studieren, was wahrscheinlich schrecklich sein würde. Von Ossendrecht würde dann nicht mehr die Rede sein. Und trotzdem konnte ich der President Steynstraat den Rücken kehren, war ich weg aus einem Viertel, in dem uns die Menschen nicht nur »schief anguckten«, wie mein Vater gesagt hatte, sondern in dem man sich auch andauernd den Mund über uns zerriß. Übrigens muß ich noch hinzufügen, daß viele Wörter und Ausdrücke, die ich als typisch für das Hoofdviertel empfinde, auch andernorts von Leuten benutzt werden. Manchmal habe ich bedauernd feststellen müssen, daß die Sprache meiner Kindheit weniger, als ich dachte, von dem abweicht, was allgemein üblich ist. Nur vereinzelte Redensarten, wie »hinter dem Martwert zurückbleiben«, habe ich nirgendwo anders gehört, die meisten Ausdrücke aber werden früher oder später doch von Leuten in den Mund genommen, die nicht vom Hoofd stammen. Dann ist es gerade so, als würde mir ein Stück meiner Kindheit gestohlen.
Janny (1)
Nach dem Abschlußexamen folgte ein wohltuend leerer Sommer, der Sommer des »Nicht-Mehr« und »Noch-Nicht«. Meine Sonntagsausflüge zum Gymnasium waren vorbei, aber ich studierte noch nicht. Ich war weder Schüler noch Student, und daher durfte ich in den vier Monaten so tun, als wäre ich derjenige, als der ich mich selber geboren glaubte. Verbissen komponierte ich kurze Stücke für Flöte und Klavier. Niemals hätte ich es gewagt, diese Stücke im Beisein beispielsweise meiner Klavierlehrerin zu spielen, aber sie war zu Verwandten nach Hull gereist. Und Herman robbte in Deutschland durch die Lüneburger Heide. William war allein zu Hause und durfte auf mein Drängen hin sogar ab und an bei uns abends Einstippgrütze mit Sirup essen. Im Gegenzug, fand ich, war es nur recht und billig, daß er mit mir, selbstverständlich nach Bach und Ihr Blümlein alle, meine kleinen Kompositionen spielte. Großmütig entzifferte er meine Achtel und Sechzehntel. Ängstlich enthielt er sich jedes Werturteils. Wenn unser gemeinsames Spielen vorbei war, öffneten wir die Fenster, und meine Töne konnten über das Wasser davonwehen. Im Erker sitzend, starrten wir auf den Fluß, während wir den schon völlig abgespielten Platten seiner Mutter lauschten. Eine der Platten hörten wir immer, wenn draußen die Straßenlaternen angezündet wurden und der Wolkenhimmel und das Flußwasser miteinander zu verschmelzen begannen. Ohne ein Wort miteinander zu reden, lauschten wir dem unvollendeten, aber dennoch unfaßbaren Wunder eines Fünfundzwanzigjährigen.
An einem dieser Abende - da war es bereits Anfang Juli - wurde während des zweiten Satzes dieses Wunders zweimal an der Tür geklingelt. »Wer kann das sein?« fragte William erstaunt. Er nahm die Nadel von der Platte, lief zum Fenster und schaute nach unten. »Janny«,
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