Das Wunder der Liebe
hier schlafen lassen.”
“Sie könnten genauso gut ein Mörder sein, der aus dem Gefängnis entflohen ist”, stieß sie hervor.
Er ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten. Den Kopf stolz erhoben, stand sie kerzengerade vor ihm. Beide beäugten sich argwöhnisch, wohlwissend, dass sie in einer Sackgasse gelandet waren. Er spürte ihre Angst, ihren inneren Kampf und entschloss sich, dieser Situation ein Ende zu bereiten, selbst wenn es für ihn bedeutete, draußen zu erfrieren.
“Ist schon gut”, sagte er. “Ich werde gehen. Lassen Sie mich nur noch meinen Rucksack holen.” Er ging auf die Treppe zu, und sein Herz wurde schwer bei dem Gedanken, sich ohne seinen Revolver auf den Weg machen zu müssen.
“Warten Sie.”
“Warum?” Wollte sie etwa, dass er auch noch seine Sachen zurückließ? Er blieb stehen und drehte sich um.
“Sie können bleiben”, erklärte sie. “Aber nur bis morgen früh, und ich werde Ihre Waffe mit ins Haus hinüber nehmen.”
Ihr Gesinnungswandel überraschte und berührte ihn. Sie war noch mutiger, als er anfangs geglaubt hatte. Und sie besaß offensichtlich ein großes Herz.
“Danke”, sagte er. “Ich weiß Ihr Angebot sehr zu schätzen.”
Wren betrachtete den Mann, der vor ihr stand, und wusste nicht genau, warum sie ihre Meinung geändert hatte. Etwas an ihm berührte sie. Irgend etwas, das sie einfach nicht benennen konnte. Etwas, das sie tief in ihrem Inneren bewegte.
Er hatte seine Waffe abgelegt und war bereit gewesen, hinaus in die Kälte und Nässe zu gehen, als sie es ihm befohlen hatte.
Ein Mann, der so reagierte, hatte bestimmt keine schlechten Absichten. Außerdem hatte er sich die Mühe gemacht, ihre Kühe zu melken.
“Sie sind bis auf die Haut durchnässt”, stellte sie schließlich fest.
Er zuckte die Schultern und fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar, das sich über dem Kragen seiner schwarzen Lederjacke lockte. Wasser tropfte aus seiner Kleidung und bildete eine kleine Pfütze auf dem Zementboden. Sie konnte spüren, dass dieser Mann litt. Und das wahrscheinlich bereits seit längerer Zeit. Woher wusste sie das? Wren konnte keine Antwort darauf geben, aber sie spürte, dass sie Recht hatte.
Ein steile Falte stand zwischen seinen Augenbrauen. Die Mundwinkel seiner gut geschnittenen Lippen hingen herab. Der zynische Ausdruck und die Bartstoppeln, die verrieten, dass er sich bereits seit einigen Tagen nicht mehr rasiert hatte, ließen ihn nicht sehr sympathisch wirken. Doch trotz alledem musste Wren zugeben, dass er ein gut aussehender Mann war.
Es war wahrscheinlich dumm, ihn hier übernachten zu lassen, aber hatte sie eigentlich eine Wahl? Ohne Telefon und mit dem Sturm, der draußen wütete, war sie völlig isoliert und von der Laune dieses Fremden abhängig. Es war besser, ihm Gastfreundschaft zu gewähren, als ihn zu verärgern. Außerdem stand Weihnachten vor der Tür, und ein Mensch in Not hatte um Herberge gebeten. Durfte sie ihm die verwehren?
Was du nicht willst, was man dir tue, das füge auch keinem anderen zu. Der Grundsatz, nach dem sie lebte, fuhr ihr durch den Kopf.
“Ich werde Ihren Revolver mit rübernehmen”, wiederholte sie. “Aber ich werde noch einmal kommen, um Ihnen Handtücher, Decken und etwas zu essen zu bringen.”
“Danke.” Echte Dankbarkeit schwang in seiner Stimme mit und gab ihr das Gefühl, das Richtige getan zu haben.
Sie ging zum Futterkasten hinüber und nahm den Revolver auf.
Er war gesichert, und sie steckte ihn in ihre Jackentasche.
“Ich werde in wenigen Minuten zurück sein. Warum ziehen Sie nicht wenigsten die nasse Jacke aus?”
Er nickte, und in seinen Augen glomm ein Feuer, das sie nicht zu deuten wusste.
Sie wandte sich ab, ging auf die Tür zu und hoffte, dass er sie nicht von hinten überfallen würde. Außerdem gab sie sich große Mühe, ihr leichtes Hinken zu verbergen, um nicht schwach und verletzlich zu wirken.
Als sie schließlich die Tür erreicht hatte und aus dem Stall hinaustrat, schlug ihr der eisige Wind ins Gesicht. Sie senkte den Kopf gegen die Naturgewalt, um sich zu schützen, und sah, dass der Schneematsch bereits überfroren war. Vorsichtig setzte sie ein Bein vor das andere und verdrängte dabei das Bild des Mannes, den sie gerade im Stall zurückgelassen hatte. Er war ihr ein Rätsel. Wer war er? Was, verflixt noch mal, suchte er hier draußen auf dem Land mitten in einem Sturm, und das so kurz vor Weihnachten, wenn die meisten Menschen bei denen
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