Das Wunder des Pfirsichgartens: Roman (German Edition)
ändert alles.
Jetzt aber wollte Willa nicht darüber sprechen, was sie von den reichen Familien im Ort hielt. Rachel hatte niemals länger als ein paar Monate an einem Ort verbracht, Willa hingegen fast ihr ganzes Leben hier gelebt. Sie wusste alles über die geheimnisvolle soziale Dynamik von Walls of Water. Sie wusste nur nicht, wie sie diese Dynamik Leuten erklären sollte, die sich damit nicht auskannten. Deshalb stellte sie Rachel eine Frage, die sie bestimmt ablenken würde. »Was gibt es denn heute Leckeres bei uns? Es duftet fantastisch.«
»Ah – lauter Köstlichkeiten, wenn ich das so sagen darf. Den Knabbermix biete ich heute mit Kaffeebohnen im Schokoladenmantel an. Außerdem gibt es Haferplätzchen mit einer Kaffeeglasur und Espresso-Brownies.« Sie deutete wie die Gastgeberin einer Kochshow auf die Snacks in der Vitrine.
Vor etwa einem Jahr hatte Willa Rachel gefragt, ob sie nicht die bis dahin geschlossene Kaffeebar im Laden übernehmen wolle. Ihr Vorschlag, auch Snacks anzubieten, die Kaffee als Zutat enthielten, erwies sich als genialer Einfall. Nun war es morgens ein richtiges Vergnügen, den Laden zu betreten. Der intensive Duft von Schokolade, in den sich das warme Aroma frisch aufgebrühten Kaffees mischte, barg etwas Geheimnisvolles in sich. Willa kam es vor, als hätte sie endlich das perfekte Versteck gefunden.
Willas Laden, der auf Ökosportkleidung spezialisiert war, lag an der National Street. Die lange, viel befahrene Straße führte direkt zum Eingang des Cataract National Forest, eines Parks im Herzen der Blue Ridge Mountains in North Carolina, der wegen seiner wundervollen Wasserfälle berühmt war. An dieser Straße waren alle Geschäfte auf den Bedarf von Wanderern und Campern ausgerichtet. In ihrem Laden hatte Willa endlich ihre Nische gefunden, wenn man es denn so nennen wollte. Im Grunde lag ihr nicht viel am Wandern, Campen oder sonstigen Outdoor-Aktivitäten, die die Stadt am Leben hielten. Aber sie fühlte sich bei den anderen Ladenbesitzern und den Leuten, die neu waren in der Stadt, sehr viel wohler als bei denen, die sie in ihrer Jugend gekannt hatte. Wenn sie schon hier lebte, dann gehörte sie hierher und nicht zu den feinen Alteingesessenen.
Die Geschäfte waren in Gebäuden untergebracht, die vor über hundert Jahren errichtet worden waren, als Walls of Water nur ein kleiner Holzfällerort gewesen war. Die Decken waren mit ziseliertem Zinnblech verkleidet, die Fußböden abgewetzt und ausgebleicht. Beim kleinsten Druck knackten sie wie die Knochen einer alten Frau. Deshalb wusste Willa nun, dass Rachel hinter ihr stand.
Sie drehte sich um. Rachel hatte den verhassten Umschlag in der Hand. »Mach ihn auf!«
Willa nahm ihn zögernd entgegen. Er war aus festem Papier, das sich dennoch unglaublich weich anfühlte. Sie öffnete ihn hauptsächlich deshalb, um nicht weiter von Rachel genervt zu werden. Ausgerechnet in diesem Moment bimmelte die Glocke über dem Eingang. Beide drehten sich um, weil sie sehen wollten, wer hereinkam.
Aber am Eingang war niemand.
Rachel rieb sich die nackten Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte. »Mir ist plötzlich ganz kalt.«
»Meine Großmutter hätte gesagt, das bedeutet, dass ein Geist an dir vorbeigeschwebt ist.«
Rachel schnaubte abfällig. »Aberglaube ist der Versuch der Menschen, Dinge zu kontrollieren, die sie nicht kontrollieren können.«
»Danke, Margaret Mead.«
»Nun mach schon.« Rachel stupste sie an. »Lies!«
Willa zog die Einladung heraus und las:
Am 12. August 1936 gründeten ein paar Damen aus Walls of Water, North Carolina, einen Klub, der sich mittlerweile zum bedeutendsten Gesellschaftsverein der Gegend gemausert hat. Der Damenklub organisiert Spendenveranstaltungen, lädt zu kulturellen Ereignissen ein und schreibt jährliche Stipendien aus.
Anlässlich des fünfundsiebzigsten Gründungstages dieser wunderbaren Organisation beehren sich die derzeitigen Mitglieder des Damenklubs, Sie als ehemaliges Mitglied oder als Verwandte/n eines ehemaligen Mitglieds zu einem ganz besonderen Fest einzuladen.
Feiern Sie mit uns fünfundsiebzig Jahre guter Taten. Kommen Sie am 12. August um 19 Uhr in das frisch restaurierte Blue Ridge Madam. Dort wollen wir diesen großen Tag gemeinsam begehen.
UAWG – bitte benützen Sie dazu die beiliegende Antwortkarte an die Vorsitzende Paxton Osgood.
»Siehst du?«, sagte Rachel, die sich über Willas Schulter gebeugt hatte. »Das war doch gar nicht so
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