Das Wunder des Pfirsichgartens: Roman (German Edition)
Vermeidungsstrategie hatte sie erst in letzter Zeit entwickelt. Sie war sich nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte. Bis jetzt hatte sie eigentlich ganz gern bei ihren Eltern gelebt. Wenn sie einmal im Jahr zum Treffen ihrer Studentinnenverbindung nach New Orleans fuhr, wunderten sich alle ihre ehemaligen Kommilitoninnen, dass sie noch immer zu Hause wohnte. Sie verstanden nicht, warum sie nach dem Studium überhaupt in ihr Elternhaus zurückgekehrt war. Schließlich hatte sie genügend Geld, um zu tun, wonach ihr der Sinn stand. Paxton fiel es schwer, ihr Verhalten zu erklären. Sie liebte Walls of Water. Sie liebte es, Teil seiner Geschichte zu sein und für das weitere Bestehen dieses Ortes zu sorgen. Es brachte eine tiefe, vibrierende Saite in ihr zum Klingen. Sie gehörte hierher. Und da Paxtons Zwillingsbruder Colin wegen seines Jobs durchs ganze Land und häufig auch ins Ausland reiste, fand Paxton es nur fair, dass ihre Eltern wenigstens ein Kind in ihrer Nähe hatten.
Im letzten Jahr, als die Dreißig wie ein schwarzer Ballon vor ihr aufgestiegen war, hatte Paxton endlich den Entschluss gefasst auszuziehen. Nicht in einen anderen Bundesstaat, nicht einmal auf die andere Seite des Ortes, sondern in ein Haus, das ihre Freundin Kirsty Lemon, eine Immobilienmaklerin, verkaufen wollte. Es lag nur knapp sechs Meilen von ihrem Elternhaus entfernt. Sie hatte die Strecke mit dem Meilenzähler ihres Wagens gemessen und ihren Eltern die Nähe als großen Pluspunkt angepriesen. Aber ihre Mutter hatte sich bei dem Gedanken an ihren Auszug und an die Auflösung ihrer glücklichen kleinen Problemfamilie so aufgeregt, dass Paxton sich genötigt sah, einen Rückzieher zu machen. Immerhin zog sie aus dem Haupthaus ins Gartenhaus am Pool – ein kleiner, doch absolut notwendiger Schritt. Es würde wohl noch ein Weilchen dauern, bis sie den endgültigen Absprung schaffte.
Das Gartenhaus verschaffte ihr etwas mehr Privatsphäre, doch leider führte der Weg dorthin unweigerlich durch das Haupthaus. Ihre Eltern wussten also stets, wann sie kam und wann sie ging. Sie konnte nicht einmal eine Tüte Lebensmittel mitbringen, ohne dass ihre Mutter es kommentierte. Ihre Tagträume waren darauf zusammengeschrumpft, dass sie sich vorstellte, es läge eine Schachtel Donuts auf ihrer Küchentheke, ohne dass jemand ein Wort darüber verlor.
Sie nahm die Stufen zu dem ausgedehnten Wohnsitz ihrer Eltern, der dank der vielen Hickorybäume auf dem Anwesen den Namen Hickory Cottage trug. Im Herbst war der gesamte rückwärtige Teil mit gelben Blättern übersät, die so hell leuchteten, dass sie die Nacht erhellten. Die Vögel, die in den Bäumen nisteten, wurden ganz konfus, weil sie die Tageszeiten nicht mehr unterscheiden konnten. Manche blieben tagelang wach, bis sie erschöpft von den Ästen plumpsten.
Paxton öffnete leise die Haustür und schloss sie ebenso leise hinter sich. Sie wusste, dass sich ihre Eltern um diese Zeit die Nachrichten im Fernsehen ansahen. Deshalb wollte sie auf Zehenspitzen durch die Küche schleichen und durch die hintere Tür wieder hinaus, ohne dass sie etwas merkten.
Sie drehte sich um – und stolperte prompt über einen Koffer.
Sie landete auf allen vieren auf dem Marmorfußboden in der Diele. Ihre Handflächen schmerzten.
»Was um alles in der Welt war das?«, hörte Paxton ihre Mutter fragen. Dann vernahm sie eilige Schritte aus dem Fernsehzimmer.
Paxton setzte sich auf und stellte fest, dass sich der Inhalt ihrer Umhängetasche bei ihrem Sturz über den Boden verteilt hatte. All ihre Listen waren herausgeflattert, was sie in Panik versetzte. Ihre Listen gingen niemanden etwas an. Sie zeigte sie keinem. Rasch sammelte sie sie ein und stopfte sie in die Tasche zurück. In dem Moment erschienen drei Personen in der Diele.
»Paxton! Alles in Ordnung?«, fragte ihre Mutter, während Paxton aufstand und sich abklopfte. »Colin, räum um Himmels willen deine Koffer weg!«
»Ich wollte sie ins Gartenhaus bringen, aber dann habe ich festgestellt, dass Paxton jetzt dort wohnt«, erwiderte Colin.
Beim Klang der Stimme ihres Bruders wirbelte Paxton herum und warf sich in seine Arme. »Du wolltest doch erst am Freitag kommen!«, sagte sie und umarmte ihn fest. Sie schloss die Augen und atmete tief die ruhige, zwanglose Atmosphäre ein, die ihn stets zu umgeben schien. Sie war so froh, ihn zu sehen, dass sie befürchtete, in Tränen auszubrechen. Doch gleich darauf wurde sie so sauer auf ihn, dass sie ihn
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