Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
aus. Claudia blieb noch kurz sitzen, beugte sich nach vorn zu Berit und Gina und nestelte etwas aus der Tasche ihrer Jeans.
»Ich … also, dass ihr mich jetzt nicht für blöd haltet oder für sentimental. Aber … irgendwie war das ja schon ein Wunder,da oben … und deshalb … na ja, ich hab’s behalten … als Glücksbringer.« Verschämt hielt sie den beiden das zerknitterte Heiligenbildchen hin, das Sophie Bernie nach der zweiten Erscheinung abgenommen hatte. »Und Glück könnt ihr jetzt ja brauchen …«
Berit schaute gerührt auf das fleckige kleine Kitschbild. »Wir haben doch schon Friederike«, meinte sie ablehnend.
»Aber die ist chinesisch, und das ist katholisch, vielleicht ist es ganz gut, sich abzusichern. Ihr könnt es an die Pinnwand hängen oder so was …«
»Vielen Dank«, sagte Gina mit ein bisschen erstickter Stimme. »Wir machen es, versprochen! Und jedes Mal, wenn wir wieder eine unbezahlte Rechnung daneben heften, denken wir an euch.«
Claudia lachte. »Ich schick euch ’ne Einladung zur Oscar-Verleihung. Oder erst mal zur Abschlussfeier, wenn die Schule vorbei ist. Graduation Day nennt man das, nicht?«
Berit nickte lächelnd, als Claudia glücklich das Lied aus Farne vor sich hinpfiff.
»We will all be stars!«
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Nur gegen Aufpreis …
G rauenfels – eine Kleinstadt im letzten Zipfel der neuen Bundesländer. Wenn hier zurzeit die Arbeitslosenrate gegen null tendiert, wenn Menschen zu- statt abwandern und im Monat durchschnittlich zehn Unternehmensgründungen notiert werden, dann kann man wohl zu Recht von einem Wunder sprechen. Aber echte Wunder sind leider selten, und wenn doch mal etwas scheinbar Unerklärliches passiert, so stecken meist außergewöhnliche Ideen und extreme Experimentierfreude dahinter. Alles das – wenn nicht gar den Mut der Verzweiflung angesichts seiner sterbenden Stadt – bewies in diesem Frühjahr Igor Barhaupt, Bürgermeister von Grauenfels in Thüringen. Gemeinsam mit ein paar Werbeprofis heckte er den wohl gewaltigsten Schelmenstreich zur Konjunkturbelebung auf, den die Republik in den letzten Jahren zu verzeichnen hatte. Barhaupt und seine Mitarbeiter inszenierten das »Wunder von Grauenfels« …
»Eigentlich schreibt er ja sehr nett«, kommentierte Gina die ersten Sätze des sechsseitigen Artikels, in dem Ruben Lennart die Grauenfelser Marienerscheinung nach allen Regeln der Kunst enttarnte. BeGin hatten bei Öffnung des ersten Kiosks ein druckfrisches Exemplar der Lupe erstanden.
»Er nennt Claudia eine ›seltene Begabung‹, und Sophie bescheinigt er eine ›in ihren besten Momenten fast überirdischeSchönheit‹ …«, meinte Berit, die schon weitergelesen hatte. »Vielleicht beruhigt das Frau Martens. Sie hat noch nicht angerufen, oder, Sybille?«
Frau Clarsen schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht. Aber … was da in dem Artikel steht … das ist doch nicht die Wahrheit.«
Berit schenkte ihr einen entschuldigenden Princess-Diana-Blick. »Ich fürchte doch … wir … also eigentlich hätten wir dich ja eingeweiht, aber du hast so fest dran geglaubt …«
Sybille biss sich auf die Lippen. »Ich habe zuerst gar nicht dran geglaubt, ich bin doch nicht blöd. Schließlich hab ich gesehen, dass die Mädchen hier von Anfang an ein und aus gingen und mit euch herumgetuschelt haben. Aber dann … Ich hab das Wunder schließlich erlebt …« Mit leuchtenden Augen rekapitulierte Frau Clarsen ihr Wunder.
Gina warf Berit einen beschwörenden Blick zu und schüttelte fast unmerklich mit dem Kopf.
Berit deutete ebenfalls ein Nicken an. Es war unzweifelhaft besser, Sybille nicht über die Reiseorganisation aufzuklären. »Es hat sich dann wohl etwas verselbstständigt …«, sagte sie vage.
Sybille warf einen Blick auf ihre Notizen. »Der Doktor hat übrigens angerufen. Wenn es eben geht, möchtet ihr um elf zu ihm in die Praxis kommen, es wäre ziemlich wichtig. Betrifft auch Igor, falls der heute überhaupt noch auftaucht. Sieht aus, als wollte er sich verkriechen.«
Gina seufzte. »Verdenken kann ich’s ihm nicht – würde mich nicht wundern, wenn hier gleich die Hölle los wäre.«
Ganz Unrecht hatte sie damit nicht. Gegen zehn lief das Telefon heiß, und die ersten Reporter warteten vor dem Bürgermeisteramt. Die meisten waren eher belustigt, einige forderten aber auch ziemlich wütend Stellungnahmen der Stadtverwaltung. Auch einzelne Bürger riefen an – Pilger, die sich betrogen fühlten, und andere, die wilde
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