Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
spielte vergnügt mit ein paar Blumen, die er an der Quelle stibitzt hatte.
»Dassis eine Rose … dassis eine Nelke …«
»Und da ist Herr Martens!« Berit staunte. »Dass der sich mal herbequemt, hätte ich nie gedacht!«
Claudias Vater stand etwas verdeckt hinter der Quelle. Er war jedoch groß genug, um auch von dort aus einen Blick auf seine Tochter zu erhaschen. Vorerst sah er etwas ungläubig auf die Menschenmenge und die Aufbauten im Wäldchen. Bislang hatte er das Wunder erfolgreich ignoriert. Anscheinend ging ihm jetzt erst auf, welche Ausmaße es angenommen hatte.
Ruben winkte Annika und Peter Lohmeier zu, die gerade den Prozessionsweg entlangkamen. In ihrem Gefolge Elfi und Schwester Felicitas. Elfi erkannte Ruben kaum wieder. Aus der recht hübschen Frau war durch die Nasenoperation eine kleine Schönheit geworden. Dazu hatte sich ihr gesamtes Auftreten verändert. Sie ging aufrecht mit stolz erhobenem Kopf und zog die Blicke aller Männer auf sich, die nicht gerade in Andacht versunken waren. Viele waren das allerdings nicht. Der Eindruck, den Ruben im Bus gewonnen hatte, bestätigte sich hier: Die meisten Männer dürften die Pilgerfahrt nur auf Druck ihrer Frauen angetreten haben. Ruben gönnte ihnen den Blick auf die strahlende Elfi.
Und dann erschienen endlich die beiden Mädchen – und sahen so glücklich aus, dass Merls überirdisches Leuchten hier völlig überflüssig gewesen wäre. Claudia und Sophie glühten ganz von allein mit den Flammen ihrer Kerzen um die Wette. Sophie trug heute das weiße Kleid, das sie vor dem Besuch der Murphys verworfen hatte. Gegen den Regen kombinierte sie es mit einer Lederjacke, was ihrer Erscheinung die Bravheit nahm, den unschuldigen Ausdruck des Mädchens aber eher verstärkte. Es sah ein bisschen aus, als sei eine Novizin unter die Rocker gefallen. Sophies dichtes Haar fiel diesmal offen über ihren Rücken und verstärkte den feenhaften Eindruck. Die Pilger quittierten ihren Auftritt mit Ahs und Ohs.
Claudia dagegen machte heute auf leger. Sie trug Jeans undeine bunte Jacke, erstanden im neuen Dritte-Welt-Laden einer Fraueninitiative. Er hatte vor kurzem in einer Seitenstraße von Grauenfels eröffnet. Die Stadt belebte sich jetzt sogar in den Vororten. Claudias blondes Haar war stufig geschnitten und mit Gel zu einer frechen Punkfrisur geformt. Nicht ganz so auffällig wie Mandys, aber doch ein Zeichen dafür, dass auch die schrilleren Marienanbeter ihre Seherin hatten.
Beide Mädchen gingen der Erscheinung diesmal mit ausgebreiteten Armen entgegen, Claudia blieb stehen, während Sophie auf die Knie fiel. Ruben überlegte, woran die beiden wohl denken mussten, um einen so verzückten Ausdruck in ihre Gesichter zu zaubern. Die Oscar-Verleihung in Hollywood? Giselle auf der Bühne der Opéra de Paris?
Und dann löste sich ein kleiner Schatten aus der Reihe der Zuschauer. Bernie stürzte auf seine Schwester zu und winkte vergnügt mit seinen Blumen in Richtung Steinbruch.
»Ssöne Dame! Hallo, ssöne Dame!«
Sophie nahm ihren Bruder in den Arm und lächelte selig in das, was man in Grauenfels unter »Unendlichkeit« führte. Der Text, den die Mädchen sprachen, ging im Geraune der Zuschauer unter. Als sie schließlich schwiegen und der Erscheinung nachsahen, hatten viele der Frauen Tränen in den Augen.
»Unbegreiflich, dass hier noch jemand zweifeln kann«, hörten Berit und Gina aus den Reihen der Pilger hinter ihnen. »Die Mädchen mögen uns etwas vorspielen. Aber dieses Kind lügt nicht. Der kleine Junge hat sie gesehen.«
Während die Pilger langsam wieder zur Ruhe kamen und die Mädchen noch in täuschend echt gespielter Andacht verharrten, trat Frau Becker zu Berit und Gina.
»Ich …«
»Tut mir Leid, dass Bernie involviert wurde. Wir hatten das wirklich nicht geplant«, versuchte Gina, die erwarteten Vorwürfe im Ansatz zu entkräften.
Frau Becker schüttelte den Kopf. »Das ist schon in Ordnung, er rannte einfach los … keine Ahnung, was er hatte. Aber ich … ich wollte mich wegen neulich entschuldigen. Ich hätte Sie nicht so anfahren dürfen. Eigentlich wollte ich mich auch bedanken. Sophie … wir hätten es nie geschafft, sie nach Paris zu schicken.«
»Sophie hat sich das ganz allein erarbeitet«, wehrte Gina ab. »Sie hätte es auch ohne uns geschafft.«
Frau Becker lächelte schief. »Das glauben Sie doch selbst nicht. Sie wäre viel zu alt gewesen, bevor sie bei einer ordentlichen Ballettschule hätte vortanzen können.
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