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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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ihre Nerven kurieren lassen«, schnappte Gussarow erbost zurück. »Das ist alles, was ich Ihnen dazu sagen kann.«
    »In den letzten Monaten schreiben die Zeitungen, wie Sie eben selbst erwähnt haben, allerlei über Sie und Ihre Frau. Und nicht nur Positives.«
    »Ich bin im Bilde, lese selber Zeitung«, knurrte Gussarow. »Alles Quark.«
    »Was Ihre Frau den Journalisten erzählt, ist Ihrer Meinung nach alles Quark? Ich habe ein Interview mit ihr gelesen, in dem sie davon spricht, dass Sie sie oft grob, sogar grausam behandelt haben, dass es zu Auseinandersetzungen und Szenen kam und dass Sie mehr als einmal die Hand gegen Sie erhoben haben.«
    »Zwischen uns besteht ein Altersunterschied von zehn Jahren«, sagte Gussarow scharf, »und wir sind ganz verschieden erzogen worden. Auroras Mutter, meine frühere Schwiegermutter, hat ihr viel zu viel durchgehen lassen. Ich dagegen bin von meinem Vater erzogen worden. Er hat im Metallwerk ›Hammer und Sichel‹ geschuftet, zwei Schichten hintereinander, war Stoßarbeiter. Vier Kinder waren wir zu Hause, und meine Mutter. Und uns alle hatte mein Vater so fest im Griff«, Gussarow ballte seine kleine geäderte Faust, »alle bekamen von Zeit zu Zeit ihr Fett ab. Gewöhnlich hatte das seinen Grund, und wenn nicht, dann wussten wir, es muss eben so sein, der Papa weiß, was er tut. Auch meine Mutter ist nicht verschont geblieben. Aber ich habe bis zu ihrem Tod nicht ein einziges Mal gehört, dass sie zu irgendwem etwas Schlechtes über meinen Vater gesagt hätte.«
    »Waren Sie schon mal in der Produktionsvereinigung ›Saturn‹?«, unterbrach Lessopowalow seine Kindheitserinnerungen.
    »Nein, niemals. Was ist das überhaupt?«
    »Aha, das ist also Schall und Rauch für Sie. Und in Pirogowskoje?«
    »Meinen Sie das Kaff an der Kljasma? Ja, früher mal, in meiner Studentenzeit.«
    »Was haben Sie eigentlich studiert? Chemie? Ingenieurswesen?«, fragte Lessopowalow hartnäckig weiter.
    »Ja. Aber wie Sie sehen, habe ich mir einen anderen Beruf ausgesucht.« Gussarow grinste.
    »Kennen Sie Juri und Jelena Worobjow?«
    »Nein. Seltsame Fragen stellen Sie. Unverständliche.«
    »Für uns sind sie verständlich«, sagte Kolossow. »Aber ich habe Ihre Frage noch nicht vollständig beantwortet. Nicht irgendwelche unklaren Ängste Ihrer Frau haben uns veranlasst, hierher zu Ihnen zu fahren, sondern ganz konkrete Fakten.«
    »Was denn noch für Fakten?«, fragte Gussarow scharf und nahm die Pfeife aus dem Mund.
    Kolossow antwortete nicht sofort. Er fühlte sich wie auf dünnem Eis.
    »Die Untersuchungen haben ergeben, dass Studnjows Tod ein Zufall war.« Kolossow bemühte sich, überzeugend zu sprechen, doch die richtigen Worte, der richtige Tonfall wollten sich nur zögernd einstellen. »Bei dem Abendessen, das Ihre Frau im Restaurant ›Al-Maghrib‹ gegeben hat, wo Sie sie ja übrigens auch angerufen haben, sollte gar nicht Studnjow getötet werden, sondern Ihre Frau.«
    Das war ein aufs Geratewohl gestarteter Versuchsballon.
    Gussarow sprang auf. Polternd fiel der Rattansessel um. Die Schöße des Kimonos öffneten sich weit.
    »Wovon reden Sie?«, fragte er, bemüht, vorläufig noch ruhig und leise zu sprechen.
    »Wenn Sie das Gespräch lieber in Anwesenheit Ihres Anwalts fortsetzen möchten, warten wir gern, bis er kommt«, bot ihm Kolossow friedlich an.
    »Ich brauche keinen Anwalt. Diese Blutsauger haben mich schon bei der Scheidung nach Strich und Faden ausgenommen.« Gussarows Gesicht war rot angelaufen. Er war sehr zornig und wirkte gleichzeitig ein wenig komisch -wie ein wütender, in die Jahre gekommener Däumling. Nikita dachte: Wie kann so ein kleiner Mann sich Tag für Tag und Stunde für Stunde behaupten und der eigenen Frau beweisen, dass er der Größte ist, ohne Gefahr zu laufen, von ihr spöttisch belächelt zu werden? Nur indem er ihr die Fäuste zeigt. Mit physischer Gewalt und Einschüchterung, mit Unberechenbarkeit und Brutalität, die ihm, wie er meint, Kraft, Bedeutung und das Wichtigste überhaupt, mehr Größe, verleihen. Jemand hat einmal gesagt: Alle kleinen Männer sind von Natur aus Despoten.
    »Ich brauche keinen Anwalt«, wiederholte Gussarow. »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Aurora bildet sich jetzt also schon ein, dass man sie ermorden will?«
    »Dass Sie sie ermorden wollen«, sagte Kolossow. »Und wenn ich mir die Umstände Ihres Zusammenlebens, so wie sie an die Presse durchgesickert sind, vergegenwärtige, so kann ich ihre

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