Das zarte Gift des Morgens
Verkehrspolizei schaute sich Nikita die Diskette genauer an. Er fand darauf lauter Dokumente, die mit Buchhaltung zu tun hatten – Lieferscheine für Lebensmittel, Rechnungen für Renovierungsarbeiten, Reparaturen von technischen Geräten, kommunale Abgaben, eine Steuererklärung und die Rechnung für die Jahresmiete einer mit der Adresse »Frunse-Kai Nr. . . .« ausgewiesenen Immobilie.
Das war die Adresse des »Al-Maghrib«. Die Dateien auf der Diskette waren nichts anderes als der Jahresabschlussbericht des Restaurants. Kolossow ärgerte sich etwas, dass er seine Zeit schon wieder unnütz vergeudet hatte, nahm die Diskette aber trotzdem mit. Er konnte an ihr nichts Ungewöhnliches finden – schließlich war für einen Restaurantkritiker sicher auch die finanzielle und organisatorische Seite eines Gastronomiebetriebes von Interesse. Vielleicht handelte es sich um Material für einen Artikel. Trotzdem konnte es nicht schaden, das genauer zu überprüfen. Nikita beschloss, sich gleich morgen früh telefonisch mit Maria Potechina oder mit ihrem Chefkoch Poljakow in Verbindung zu setzen.
30
Doch am nächsten Morgen erhielt Kolossow überraschend die Nachricht, dass Dmitri Gussarow aus Finnland zurückgekehrt sei. Er war am Abend vor Mochows Tod mit dem Flugzeug aus Helsinki gekommen. Zurzeit befand er sich in seinem Haus in Nemtschinowka. Dmitri Gussarow war in diesem Fall schon so lange der große Unbekannte, nur ein Name in den Vernehmungsprotokollen der verschiedenen Zeugen, dass es dringend Zeit wurde, Kontakt zu ihm aufzunehmen, auch wenn er selbst auf diesen Kontakt vermutlich nicht allzu viel Wert legte.
Vor der Fahrt nach Nemtschinowka schaute Nikita jedoch noch rasch im Pressezentrum vorbei. Katja war bereits an ihrem Arbeitsplatz – wie ein Archäologe grub sie im Schrank emsig unter den abgehefteten Zeitungen. Kolossow teilte ihr mit ihr, wohin er unterwegs war, und überreichte ihr die Diskette, die er in Mochows Auto gefunden hatte: »Sieh dir die doch mal an, wenn du Zeit hast, ja? Das sind die Rechnungen des ›Al-Maghrib‹. Sieht aus wie gewöhnliche Buchführung, aber schau es trotzdem aufmerksam durch. Mochow hatte diese Diskette aus irgendeinem Grund am Tag seines Todes bei sich. Er hat sie nicht zu Hause oder in der Redaktion gelassen, sondern im Auto mitgenommen.«
»Gut, mache ich.« Sie nahm die Diskette entgegen. »Was wollt ihr Gussarow denn eigentlich sagen, du und Lessopowalow?«
Das war eine gute Frage. Den ganzen Weg nach Nemtschinowka dachte Kolossow nur darüber nach. Was können wir ihm sagen? Was haben wir gegen ihn in der Hand? Eigentlich war es nur wenig, was er mit dem Ex-Mann der Sängerin Aurora zu besprechen hatte. Was Kolossow nach Nemtschinowka trieb, war vor allem ganz natürliche, banale Neugier. Er wollte diesen Mann einfach mit eigenen Augen sehen – nicht auf der Titelseite einer Zeitschrift oder in einer Fernsehshow, sondern leibhaftig. Im Grunde seines Herzens war Nikita zu mindestens fünfundachtzig Prozent überzeugt, dass Gussarow der Initiator der Giftmorde und ein ausgemachter Schurke war.
Nemtschinowka war ein elitärer Villenvorort, etwa zwanzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Alles hier sah aus wie an anderen ähnlichen Orten – ein scharf bewachtes Territorium mit Schlagbaum, hohen, blickdichten Zäunen und starken, elektronisch gesicherten Toren. Die Villen und Landhäuser waren alle ganz neu, mit niedlichen Baikonen, Türmchen, Veranden und Mansarden verziert. Es herrschte eine gesittete, wohlanständige Ruhe – kein Geschrei von spielenden Kindern in den Gärten, keine laute, aus den Fenstern dröhnende Musik, keine schwatzenden Nachbarn, kein Hundegebell, keine Fahrradfahrer, keine Fußgänger, kein Autogehupe.
Am Schlagbaum kontrollierte die Wache schweigend und gleichmütig ihre Papiere und zeigte ihnen ebenso gleichmütig die Villa Gussarows – ein dreistöckiges Backsteingebäude hinter einem drei Meter hohen Zaun am Ende der dritten Allee. Fünf Minuten später klingelten Lessopowalow und Nikita bereits an der Pforte. Ein stämmiger, verschlafener Wachmann ließ sie sofort anstandslos ein, kaum dass sie ihm durch ein Fensterchen ihre Ausweise gezeigt hatten.
Das Grundstück war groß, wirkte aber nackt und unwirtlich. Ein paar kleine Obstbäume, dünne, kümmerlich aussehende Exemplare, vor der Veranda schmächtige kanadische Tännchen. Die Blumenbeete waren von der Hitze ausgeblichen und hatten hässliche, kahle Stellen
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